Lucius Annaeus Seneca:
De brevitate vitae 14/15
"Nur die allein leben in Muße, die ihre Zeit der Weisheit widmen: Sie allein leben. Sie hüten nämlich nicht nur ihre eigene Lebenszeit gut, sie fügen ihr auch noch jede Zeitepoche hinzu. Alle Jahre, die vor ihnen gelebt wurden, haben sie für sich gewonnen. Wenn wir nicht ganz und gar undankbar sind, dann sind doch all die berühmten Schöpfer des ehrwürdigen Gedankenguts für uns geboren, haben uns den Weg zum rechten Leben gebahnt. Zum Edelsten und Schönsten, das durch die Mühe anderer aus der Finsternis ans Licht gebracht wurde, werden wir hingeführt. Kein Zeitalter ist uns verschlossen, zu allen haben wir Zutritt, und wenn wir hochgemut die Schranken menschlicher Schwäche überschreiten wollen, dann tut sich ein großer Zeitraum auf, den wir durchwandern können. Wir dürfen disputieren mit Sokrates, zweifeln mit Karneades, Ruhe finden mit Epikur, die menschliche Natur überwinden mit den Stoikern, mit den Kynikern sie hinter uns lassen.
Da die Natur es uns gestattet, als Zeitgenosse in jeder Epoche einzutreten, warum sollten wir uns da nicht von unserer kurzlebigen Augenblicksexistenz weg und mit ganzer Seele dem zuwenden, was unermesslich, was ewig ist, was uns mit Besseren in Verbindung bringt? [...] Nur die widmen sich, so meinen wir, den rechten Verpflichtungen, die sozusagen täglich mit Zenon, mit Pythagoras, Demokrit und den übrigen Größen der Wissenschaft, wie Aristoteles und Theophrast, möglichst vertrauten Umgang haben wollen. Jeder von ihnen hat Zeit, jeder wird den, der zu ihm kommt, empfangen und ihn glücklicher und in noch engerer Freundschaft entlassen. Keiner wird einen mit leeren Händen von sich weggehen lassen. Bei Tag und bei Nacht kann jeder Mensch bei ihnen Zutritt finden.
Von ihnen wird dich niemand zwingen zu sterben, aber jeder wird es dich lehren. Keiner von ihnen wird dich deine Jahre kosten, nein, sie geben dir noch ihre hinzu. Keiner von ihnen wird dich in ein gefährliches Gespräch verwickeln, keine Freundschaft wird dich den Kopf kosten, keinem musst du kostspielige Ehren erweisen. Du wirst von ihnen bekommen, was Du nur willst. An ihnen wird es nicht liegen, wenn du nicht soviel davonträgst, wie du nur fassen kannst. [...] Das Leben des Weisen erstreckt sich also über einen weiten Raum, ihn schließen nicht die gleichen Grenzen ein wie die übrigen Menschen. Er allein ist frei von den Zwängen der menschlichen Natur. Alle Jahrhunderte dienen ihm wie einem Gott. Ist eine Zeit für ihn vergangen, dann hält er sie in der Erinnerung fest. Ist sie gegenwärtig, nutzt er sie. Wird sie kommen, dann nimmt er sie vorweg. Sein Leben wird dadurch lang, dass er alle Zeiten in eine einzige zusammenfasst."
Übersetzung von Marion Giebel
Schöne Seite zu Seneca: www.dennis-kleine.com/seneca
Seneca, Übersetzungen: www.latein24.de/seneca_uebersetzungen
Lateinischer Text: la.wikisource.org/wiki/De_brevitate_vitae
Wer nicht so gerne liest, aber sowas wie einen mp3-Player besitzt...
Hier gibt es Seneca zum Hören: http://librivox.org
- Trostschrift an Marcia
- Trostschrift an seine Mutter Helvia
- Über den Zorn
- Vom glückseligen Leben
- Von der Kürze des Lebens
Alles Wissen ist vergeblich ohne die Arbeit, und alle Arbeit ist sinnlos ohne die Liebe. ♥ [Khalil Gibran]