Sven-Detlef Samotny, der seit vielen Jahren hinter dem Kassenschalter saß, zweifelte zunehmend am Sinn seiner Tätigkeit. Was hielt die Menschen heutzutage davon ab, mittelalterliche Schwerter, Säbel und Pistolen zu bestaunen, warum wurden sie nicht mehr von den glänzenden Ölgemälden angezogen, die ihnen reihenweise Fürsten und edle Damen präsentierten, die einstigen Herrscher in diesen Hallen? Strategisch klug hatte man die Eintrittspreise in moderater Höhe gehalten. Unzählige farbenfrohe Werbeblätter schmückten die Schaukästen und Wandvitrinen im Hofeingang, dickbuchstabige Schilder wiesen den Besuchern den Weg. Doch dadurch veränderte sich nichts.
Nur Regen besaß die Kraft, Menschen ins Museum zu locken, anhaltender, stetiger Landregen, besonders wenn er ein ganzes Wochenende füllte. Da kamen sie an, Gruppen, Familien, Paare. Schirmständer mussten bereitstehen und Fragen beantwortet werden. Manchmal erwarteten sie von Sven-Detlef eine Führung,
einen Vortrag, einen historischen Abriss. In solchen Fällen schloss er für eine halbe Stunde die Kasse und erfüllte ihren Wunsch, so gut er es vermochte. Bereits in der Schule war er ein As in Geschichte gewesen, und noch immer lag das Heilige Römische Reich Deutscher Nation abrufbar in seinem Gedächtnis bereit, mit tausend interessanten Details. Sein ureigenstes Gebiet war das, beinahe so etwas wie eine innere Heimat, in der er sich leichter bewegen konnte als im gegenwärtigen Alltag.
Dieser aber drängte sich weit häufiger auf. Langeweile bot er im Übermaß an, leere Säle, Zimmer und Gänge. Und er hatte den Museumsbeauftragten zu einer anderen Leidenschaft verführt, die ihn in Zeiten des Publikumsmangels mit Urgewalt überfiel: das Lesen von Kriminalromanen und das Schmieden von Mordplänen.
Selbstverständlich hatte der inzwischen fünfzigjährige, nach kurzer, freudloser Ehe geschiedene und seitdem alleinstehende Mann noch nie in seinem Leben einen Menschen getötet. Höflich und respektvoll ging er mit allen um, die das Wort an ihn richteten, die befreundet, verschwägert oder sonstwie verwandt mit ihm waren. Insgeheim aber träumte er von Bluttaten, malte sich aus, wie einer vorgehen müsse, der seinen Onkel oder seine Tante, Vater oder Schwester, Kollegen oder Nachbarn aus dem Wege räumen wollte. Anatomische Skizzen fertigte er an, die besondere Markierungen derjenigen Körperstellen enthielten, die den Tod am schnellsten transportierten, wenn man sie schädigte. Aus dem Studium zahlreicher Gerichtsberichte erfuhr er von der Vielfalt der Waffen, die man genau und mit Geschick handhaben musste, um den gewünschten Erfolg zu erzielen, und auch diese Erkenntnisse hielt er in Listen und Tabellen fest. Wenn der Mörder zum Beispiel ein Stuhlbein benutzen wollte, war ihm zu raten, ein eckiges zu wählen und kein rundes, und das Ersticken mit einem Kissen verlief in den meisten Fällen nur dann zufriedenstellend, wenn das Opfer ohnehin geschwächt oder krank darniederlag.
Um eine solche Tat jedoch zu vollbringen, erforderte es eine gehörige Portion an Mut, und die fehlte Sven-Detlef. Das wusste er sehr gut, und er tadelte sich oft deswegen. Die öden Tage im Museum flogen dahin, Monate und Jahre vergingen; er aber saß lesend und kritzelnd hinter dem Schalter und lebte nicht, fühlte kaum, dass er da war. Wenn er nie etwas unternahm, um diesen Zustand zu ändern, mochte er es irgendwann bitter bereuen.
Dieser langweiligste aller Arbeitsplätze half ihm offensichtlich wenig. Der einzige Hoffnungsschimmer, der sich auftat, lag in seinem privaten Bereich, denn dort wuchs ihm inzwischen ein beachtlicher Feind entgegen: der Nachbar.
Norbert Vollsatt hieß der tolpatschige Bahnangestellte, der sich in den vergangenen Jahren nur äußerst selten seinen Mitmenschen gezeigt hatte. Nun aber änderte sich das, denn er war seit zwei Monaten arbeitslos, und da ihn nahezu zeitgleich die sicher geglaubte Ehefrau verlassen hatte, suchte er Trost in berauschenden Getränken und bei gleichgesinnten Kumpanen, die nächtelang den Garten hinter dem Haus mit grässlichem Lärm erfüllten. Klägliche, halbzornige „Ruhe!“-Rufe aus geöffneten Fenstern erzeugten hämisches Gelächter und heizten die Krakeeler noch mehr an.
Auf diese Weise verkürzten sich die Nächte des Schlosswärters Sven-Detlef Samotny, der dem Krach am nächsten wohnte und dessen Schlaflosigkeit einen ersten Plan heranreifen ließ. Dieser sollte noch keineswegs auf tatsächlichen Mord hinauslaufen, sondern nur einer anfänglichen Mutprobe dienen.
Mehrere Eisenstangen von unterschiedlicher Länge und Dicke lagen im Keller des tatendurstigen Mannes bereit. Geraume Zeit überlegte und prüfte er, bis er sich für eine entschied, von der er hoffte, sie werde selbst bei einem gröberen Schlag nicht augenblicklich töten. Dann lehnte er das Werkzeug neben die Haustür an die Wand, und jedesmal, wenn es auf dem Nebengrundstück laut wurde, bezog er einen Beobachtungsposten auf dem Dachboden. Von dort geriet das Treiben im nachbarlichen Garten vollständig in sein Blickfeld und ließ sich selbst bei sparsamer Beleuchtung überschauen.
Dabei wollte er nicht einmal herausfinden, wer den arbeitslosen Trunkenbold besuchte, um diesem Gesellschaft zu leisten und mit schwerer Zunge auf die Regierung zu schimpfen oder schlüpfrige Lieder zu grölen. Weit wichtiger war der Zeitpunkt, von dem an der Gastgeber allein und sich selbst überlassen zurückblieb, und die Antwort auf die Frage, ob gelegentlich einer dieser schrägen Vögel im Haus übernachtete. Um wirkungsvoll zuschlagen zu können, musste jeder erschwerende Umstand gewissenhaft bedacht werden.
An manchen Abenden wurde das kreischende Lachen einer oder mehrerer Frauen hörbar, und Sven-Detlef vermutete ausufernde Orgien, was seinen Zorn zwar weiter aufstachelte, ihn aber keineswegs zu unüberlegtem Handeln verführte. Geduldig verfolgte er jede Bewegung und jedes Geräusch, und alles, was seine Sinne ihm übermittelten, speicherte er als brauchbare Information in einem aufnahmebereiten Gedächtnis.
Zu Beginn des Sommers wähnte er sich nahe am vorläufigen Ziel. Eines Samstags oder besser Sonntags, denn es war bereits zwei Uhr nachts, schlich er sich bewaffnet zum Nachbargrundstück hinüber und näherte sich vorsichtig der flachen Terrasse, die das Zentrum der lärmigen Feste bildete und nun verlassen im fahlen Mondlicht lag. Auge und Ohr hatten nicht getrogen: Die Tür an dieser Seite stand sperrangelweit offen, und die stolpernden, unsicheren Schritte des betrunkenen Vollsatt, die man von draußen recht gut vernehmen konnte, legten nahe, dass niemand sonst im Haus war. Ohne Zögern und das dunkle Wohnzimmer nutzend, drang Sven-Detlef ein, durchmaß es mit wenigen Schritten und gelangte so unmittelbar hinter sein Opfer, das dank seines alkoholisierten Zustandes die unerwünschte Gesellschaft selbst im hell erleuchteten Treppenhaus nicht bemerkte.
Als die Eisenstange auf den Hinterkopf des Nachbarn traf, rief sie ein seltsam dumpfes Geräusch hervor, das der Täter für den Bruchteil einer Sekunde als überaus unangenehm empfand. Unwillkürlich schlossen sich dessen Augen und meldeten ihm nicht, was weiter geschah. Denn Norbert Vollsatt sackte auf der Stelle zusammen, doch er tat das äußerst lautlos und landete mit einer Schulter am Knie des hinterhältigen Schlägers, der daraufhin einen halberstickten Schreckensschrei ausstieß.
Präzise geplant hatte Sven-Detlef immerhin, hatte auch einkalkuliert, dass das erste Mal ungeschickt verlaufen könnte. Jeder fing einmal klein an, was er auch tat. Wenn dabei die Gefühle ihre Balance nicht durchweg hielten, war das nur zu verständlich. Schnell fand er die Fassung wieder, ergriff den Betäubten unter den Schultern und schleifte ihn zur Terrasse hinaus. Dann nahm er den Weg, auf dem er gekommen war, um auf das eigene Grundstück
zurückzugelangen. Seine Last aber kostete ihn unsägliche Mühe, denn der korpulente Vollsatt passte nur schwer durch die schmale Zaunlücke, die eigens für die Generalprobe vorbereitet worden war.
Endlich gelang es dem Versuchsmörder, sein Opfer sozusagen dingfest zu machen und es an eine schadhafte Bank im Geräteschuppen zu fesseln. Dort musste er es für einige Augenblicke sich selbst überlassen, um den Tatort noch einmal aufzusuchen und die Waffe zu bergen. Die Eisenstange in der Hand stellte er sich danach im Schein einer Funzellaterne vor dem Elenden in Positur und wartete, bis dieser die Augen aufschlug und gequält signalisierte, dass er zum Weiterleben bereit sei, wenn man ihn denn ließe.
„Oooh, wo bin ich?“ Vollsatts weinerliches Jammern hätte jeden Stein erweicht, nicht jedoch den Mann, der über ihn zu richten gedachte.
„Da, wo du hingehörst“, schnarrte Sven-Detlef Samotny streng. „Im Fegefeuer, um deine Sünden zu büßen.“
„Oooh! Mein Kopf!“ heulte der Gefesselte. „Und Durst habe ich auch, wahnsinnig Durst!“
„Nun, ich möchte meinen, du hättest genug getrunken in dieser Nacht.“ Der Entführer grinste. „Aber ich will mal nicht so sein, es ist ja erst die Vorhölle.“
Er ging hinaus und kehrte zwei Minuten später mit einem gefüllten Wasserglas zurück, das er dem Ausgetrockneten an die Lippen setzte.
„Pass auf, wir machen es kurz, denn es ist schon beinahe wieder hell“, erklärte er seelenruhig, während Vollsatt mit langen Schlucken trank. „Wenn du versprichst und unterschreibst, dass du an keinem einzigen Abend mehr Krach machst in deinem Garten, kannst du gehen und es geschieht dir nichts. Von mir aus kannst du dann die Polizei holen, aber du wirst beweisen müssen, was du ihnen sagst; und ob deine Rechtsschutzversicherung besser ist als meine, werden wir sehen. Falls du überhaupt eine hast. – Du und deine Saufchaoten, ihr tyrannisiert die ganze Siedlung, und außer mir traut sich kein Mensch, euch Einhalt zu gebieten. Ob unsereins schlafen kann, ist dir völlig egal. Aber von nun an vielleicht nicht mehr. Unterschreib, ich rate es dir!“
Er setzte das Glas ab, das ohnehin bereits leer war und hielt dem Gefangenen ein Blatt Papier vor die Nase. Dann band er dessen rechte Hand los und legte einen Kugelschreiber hinein.
„Eine Unterlage!“ klagte Vollsatt. „Ohne Unterlage kann ich nicht schreiben.“
Ein Brett war schnell gefunden, und bald stand der gewünschte Schriftzug auf dem Dokument, das der Gewalttäter sorgsam faltete und in seine Jackentasche schob.
„Das wär’s!“ beendete er trocken den nächtlichen Überfall, indem er die Fesseln löste und die Tür des Schuppens öffnete. „Verschwinde und verhalte dich ruhig, sonst überlebst du’s nicht.“
Ächzend und kaum dessen bewusst, was mit ihm geschehen war, schleppte sich Norbert Vollsatt zu seinem Haus hinüber.
Am östlichen Himmel zeigte sich der erste Schimmer der Morgensonne. Sven-Detlef Samotny, der einsame Mann aus dem Schlossmuseum hatte ein neues Leben begonnen, ein spannendes und ungeheuerliches, und wenn er sich geschickt verhielt, würde man auch ihm einst ein Denkmal errichten. Wenn nicht im Gedächtnis der Menschheit, dann zumindest auf der letzten Seite der Tageszeitung.
Während der folgenden zwei Wochen blieb Norbert Vollsatt zurückhaltend, schluckte verdrossen und traurig sein Pensum an Bier und Schnaps und lud niemanden zu sich ein. Offensichtlich war es in ihm haften geblieben, was er in der bedrohlichen Nacht unterschrieben hatte, trotz Suff und Schlag auf den Hinterkopf. Sein Erpresser hingegen fühlte so etwas wie Enttäuschung.
Wenn sich der Nachbar nun wider Erwarten an die Abmachung hielt, besaß der mordlustige Krimileser keine moralische Grundlage, um das begonnene Werk zu vollenden. Und einfach so zuzuschlagen, motivlos und der Logik entbehrend, das brachte er nicht über sich, dagegen rebellierte sein Gewissen.
Jedenfalls hatte er während des Probeüberfalls gemerkt, wozu er imstande war, und seitdem betrachtete er die Besucher im Schloss mit hochnäsiger Verachtung. Wer von diesen braven Spießern, diesen Bequemdämmer-Bürgern wäre zu einem Wagnis fähig gewesen, wie er, Sven-Detlef, es auf sich genommen hatte? Wer von ihnen traute sich, an dergleichen überhaupt zu denken?
Er war sich beinahe sicher, dass der eingeschüchterte Ruhestörer nicht zur Polizei ging. Wenn dessen Grips nicht ausreichte, um eine Arbeit zu finden oder anderweitig ein neues Leben anzufangen, genügte er ebensowenig, um zum Gegenangriff überzugehen. Mit etwas Geduld konnte man sich darauf verlassen, dass die lärmigen Grill- und Saufnächte von neuem einsetzten.
Und so geschah es.
Länger als siebzehn Tage Abstinenz hielt Norbert Vollsatt nicht durch. Auf seinem Grundstück wurde wieder feuchtfröhlich gefeiert, gesungen und gelacht. Als habe es weder Versprechen noch Unterschrift gegeben, als schmerze der Hinterkopf nicht mehr.
Sven-Detlef Samotny aber bezog seinen Beobachtungsposten und rieb sich die Hände. Die Sache lief wie geplant und nahm Gestalt an.
Erst wartete er den dritten Vertragsbruch ab, danach eine günstige Gelegenheit. Als diese sich ergab, erschlug er den Nachbarn, gründlich, exakt und mit einem so kräftigen Hieb, wie er ihn noch nie zuvor im Leben ausgeteilt hatte. Das knirschende Aufprallgeräusch ertrug er, ohne mit der Wimper zu zucken, und er wunderte sich nur, dass das Blut aus Nase, Mund und Augen trat und nicht wie erwartet nach allen Seiten spritzte. Schnell legte er mehrere Lappen um den zerstörten Kopf, um die Leiche auf die Terrasse zu zerren und von dort auf den Rasen.
Mit einer Axt, die er vorsorglich bereitgelegt hatte, machte er sich daran, den Rest seines Planes auszuführen. Wiederum war es zwei Uhr nachts und der Himmel hinreichend bewölkt, so dass ihm die Dunkelheit zupass kam. Treffsicher und glatt trennte er Gliedmaßen und Kopf vom Rumpf. Für das Geschlechtsteil, das er als Trophäe an sich nehmen wollte, benutzte er ein langes Taschenmesser.
Von einem Grundstück in der Nähe erklang Hundegebell, und für einen Augenblick hob der Mörder den Kopf und lauschte. Dann stellte er fest, dass er den Spaten vergessen hatte, ließ die abgeschnittenen Körperteile liegen und machte sich auf, um das benötigte Utensil zu holen. Axt und Eisenstange legte er dabei im Schuppen ab, denn es eilte nicht, sie verschwinden zu lassen. Außerdem wollte er keineswegs perfekt sein; sie sollten ihn schließlich finden, denn erst wenn alle Welt wusste, dass er es war, der den Krakeeler getötet hatte, begann sein Triumph.
Mit der Absicht, die Leichenteile einzeln an verschiedenen Stellen im nachbarlichen Garten zu vergraben, kehrte er dorthin zurück und überraschte einen fremden Schäferhund, der sich an den blutigen Stücken zu schaffen machte. Entschlossen, das Tier ebenfalls niederzuschlagen, schwang der Mörder den Spaten, doch der haarige Räuber war schneller, nahm das knochenähnliche Etwas, das er beschnüffelt hatte, zwischen die Zähne und flüchtete hastig. Die Pforte zur Straße hin, durch die er verschwand, stand offen.
Befand sich noch jemand hier oder war sie überhaupt nicht verschlossen gewesen? Sven-Detlef, dessen Pulsschlag sich für Sekunden beschleunigte, lauschte angestrengt und versuchte, seinen Blick zu schärfen, um das Dunkel zu durchdringen. Da er nichts sehen konnte und alles still blieb, wandte er sich wieder seinem Vorhaben zu.
Vollsatts Beine vergrub er unter dem halbverwilderten Blumenbeet, die Arme unmittelbar neben der Terrasse, den Kopf zwei Meter westlich vom Kirschbaum und den Rumpf zwischen zwei Johannisbeersträuchern. Was ihn zu dieser Ordnung veranlasste, hätte er nicht zu sagen gewusst. Und er hätte nun zufrieden sein können, doch er suchte vergeblich nach dem ebenfalls abgeschnittenen Geschlechtsteil und stieß verhaltene Flüche aus, als die sich ankündigende Morgendämmerung ihn zum Aufgeben zwang.
Dieser dreckige Köter! Sollte der vielleicht…?
Wenn tatsächlich, ließ sich daran nichts ändern, und die Dinge nahmen ihren Lauf, so oder so. Der nunmehr gestandene Mörder Sven-Detlef Samotny kehrte zu seinem Haus zurück, stopfte die blutfleckigen Kleidungsstücke in die Mülltonne, die, sollte nichts dazwischenkommen, noch vor dem Mittag geleert wurde, und duschte sich gründlich. Pünktlich um zehn Uhr saß er im Schlossmuseum hinter dem Schalter und blätterte zerstreut und müde in einem Agatha-Christie-Bändchen. An einem sonnigen Tag wie diesem waren kaum viele Besucher zu erwarten.
Es dauerte nicht länger als achtundvierzig Stunden, bis die übliche Maschinerie anlief. Einer von Norbert Vollsatts Trink- und Lärmgefährten begehrte mehrmals erfolglos Einlass in dessen Haus und benachrichtigte die Polizei. Die Einsatzkräfte verschafften sich auf ihre Weise Zutritt und entdeckten nicht wenige Spuren einer Gewalttat.
Auf der Suche nach möglichen Zeugen störten sie die nächstwohnenden Nachbarn auf und standen endlich auch vor der Tür des Museumsbeauftragten Samotny.
„Ich weiß, wen Sie suchen“, sagte dieser spitzbübisch grinsend, noch bevor die beiden Männer grüßen, sich ausweisen und vorstellen konnten. „Wenn Sie mir folgen, zeige ich Ihnen alles.“
Die Kriminalbeamten hatten bereits viel erlebt und verhielten sich nur mäßig erstaunt.
„Haben Sie den Mann umgebracht?“ fragte der Ältere geradeheraus, während sie zu dritt das Grundstück des Ermordeten betraten.
„Selbstverständlich habe ich das getan“, antwortete Sven-Detlef prahlerisch. „Er hat ja alle Leute tyrannisiert mit dem Krach, den er gemacht hat, besonders in den Wochenendnächten.“
„Das ist kein Grund, jemanden zu töten“, versetzte der Beamte streng. „Sie müssen noch ein anderes Motiv gehabt haben.“
„Das sagen Sie!“ Der Mörder lachte eckig. „Sie wohnen ja nicht hier.“
Abrupt blieb er stehen. „Hier müssen Sie graben.“
Die Beamten sahen sich an.
„Dazu brauchen wir einen Spaten.“
„Ich kann Ihnen meinen borgen“, bot Sven-Detlef an. „Wo dieses Saufschwein seine Gartengeräte aufbewahrt hat, weiß ich nicht.“
„Bedenken Sie Ihre Wortwahl!“ mahnte ihn der jüngere der beiden Männer. „Das wird vor Gericht gegen Sie verwendet.“
„Na und? Ob ich im Museum sitze oder im Knast, kommt auf dasselbe heraus.“
Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf, warf seinem Begleiter einen weiteren vieldeutigen Blick zu, zückte sein Mobiltelefon und bestellte Verstärkung.
Nach zwei Stunden hatten sie mit der Hilfe des Mörders sämtliche Einzelteile des Ermordeten gefunden und zusammengetragen.Sven-Detlef übergab ihnen bereitwillig Axt und Eisenstange, und nachdem er ihnen überdies mit den nötigen Erklärungen den erpressten Vertrag ausgehändigt hatte, meinte er, die Beweismittel dürften einstweilen genügen.
Vielleicht zerbrachen sie sich noch eine Weile den Kopf darüber, wo das Geschlechtsteil der Leiche geblieben sein mochte und warum der ungewöhnlich kooperative Täter gerade das nicht zu wissen behauptete. Aber festnehmen mussten sie ihn, und als er die ersehnte Untersuchungshaftzelle bezog, pfiff er eine fröhliche Melodie.
Trotzdem brauchten sie noch beinahe ein ganzes Jahr, um ihn zu verurteilen. Danach aber erfüllten sich seine Sehnsüchte mit einem Schlag, denn er bekam Lebenslang.
Das Gefängnis war ein durchaus unterhaltsamer Aufenthaltsort, im Gegensatz zum Museum. Hier gab es Menschen, die zu Sven-Detlef passten und ihn verstanden. Andächtig lauschten sie, wenn er ihnen die grausamen Foltermethoden des Mittelalters schilderte oder über die Feinheiten der Gerichtsmedizin dozierte. Selbst Rauhbeine, die ihn anfangs einzuschüchtern versuchten, bezeigten Respekt, als sie die Einzelheiten seiner großen Tat erfuhren, des spektakulären Mordes, des Zeitungsspaltenfüllers der Region.
Sexuelle Ambitionen bedrängten ihn nicht sonderlich, und Kriminalromane durfte er weiterhin lesen. Es war ein Jammer, dass er über fünfzig Jahre Leben gebraucht hatte, bis er an diesen Ort gelangte. Hier war er endlich er selbst, hier pulsierte das Leben so, wie es ihm Spaß machte. Dass der Staat es obendrein bezahlte, kam einem köstlichen Witz gleich.
Obendrein gönnte sich der Gefangene einen besonderen Luxus, nämlich das Tätowieren seiner Hinterbacken. Für den Rest seiner Tage prangte auf ihnen die Zeichnung eines Hundes, zwischen dessen Zähnen ein übergroßes männliches Glied nebst Hodensack klemmte.
(Aus: Andreas H. Buchwald, Sommertraums Liebesleben und andere Erzählungen, Engelsdorfer Verlag 2007)
(siehe auch: www.andrebuchverlag.de)[hr]
Der angegebene Band "Sommertraums Liebesleben und andere Erzählungen" enthält unglücklicherweise und nicht gut in dieses Bändchen passend die mythologisch-fantastisch überhöhte Kurz-Familiensaga (auf nur 100 Seiten) "Abrahams Irrtum", die gleichzeitig eine gewisse übergeordnete Sicht der jüngeren Zeitgeschichte versucht (1929-1991 ungefähr).
Irgendwann soll diese Familiensaga gesondert herausgegeben werden, zumal sie bereits einerseits zu höchstem Lob, andererseits zu heftigster Kritik herausforderte und - wie ich in diesem Forum sehen konnte - tatsächlich eine gewisse Aktualität beanspruchen darf...
[size=x-large]Leben ist das, was passiert, während wir ständig dabei sind, andere Pläne zu machen.
John Lennon[/size]
[size=x-small][/size]John Lennon[/size]