Oscar Wilde "Der glückliche Prinz"

  • Oscar Wilde "Der glückliche Prinz"

    Und weil ich es nach wie vor so wundervoll finde, was der Herr Wilde da geschrieben hat und weil Shiva-Najade mich mit ihrer Geschichte daran erinnert hat, will ich es hier mal reinstellen.


    Der glückliche Prinz


    Hoch über der Stadt stand auf einer schlanken Säule die Statue des
    glücklichen Prinzen. Er war über und über mit dünnen Blättern feinen Goldes
    vergoldet, er hatte zwei schimmernde Saphire als Augen, und an seinem
    Schwertknauf glühte ein großer roter Rubin.


    Alle Welt bewunderte ihn sehr. »Er ist so schön wie ein Wetterhahn«, meinte ein
    Ratsherr, der den Ruf eines Kunstkenners zu erlangen trachtete. »Nur nicht ganz
    so nützlich«, setzte er hinzu, denn er fürchtete, die Leute könnten ihn für
    unpraktisch halten, und das war er keineswegs.


    »Warum kannst du nicht sein wie der glückliche Prinz?« fragte eine empfindsame
    Mutter ihren kleinen Jungen, der weinend nach dem Mond verlangte. »Dem
    glücklichen Prinzen fällt's nun und nimmer ein, nach irgend etwas zu weinen.«


    »Ich bin froh, daß es in dieser Welt doch Einen gibt, der vollkommen glücklich
    ist«, flüsterte ein Enttäuschter vor sich hin, als er zu dem wundervollen
    Standbild emporschaute.


    »Er sieht ganz wie ein Engel aus«, sagten die Waisenkinder, wenn sie in ihren
    hellen scharlachroten Mänteln und den sauberen weißen Schürzchen aus der
    Kathedrale kamen.


    »Woher wollt ihr das wissen?« fragte der Rechenlehrer. »Ihr habt ja nie einen
    gesehen.«


    »O doch! In unseren Träumen«, antworteten die Kinder; und der Rechenlehrer
    runzelte die Stirn und machte ein sehr strenges Gesicht, denn er konnte es gar
    nicht leiden, daß Kinder träumten.


    Eines Nachts nun flog eine kleine Schwalbe über die Stadt, ein
    Schwalbenjüngling. Seine Gefährten waren schon vor sechs Wochen nach Ägypten
    gezogen, er aber hatte gesäumt, denn er war in das hübscheste aller Schilfrohre
    verliebt. Er hatte seine Schöne im jungen Frühling kennengelernt, als er hinter
    einem dicken gelben Falter her den Fluß entlangflog, und war von ihrer zarten
    Taille so betört gewesen, daß er in seinem Fluge eingehalten hatte, um mit ihr
    zu plaudern.


    »Soll ich dich lieben?« fragte der Schwalbenjüngling, der gern ohne viel
    Umschweife zur Hauptsache kam, und die Schöne neigte sich tief vor ihm. Da flog
    und kreiste er um sie her und streifte das Wasser leicht mit seinen Flügeln,
    daß es sich silbern kräuselte. Auf solche Art warb er, und es ging so den ganzen
    Sommer lang.


    »Das ist eine lächerliche Liebschaft«, zwitscherten die anderen Schwalben, »sie
    hat kein Geld und viel zuviel Verwandte« - und in der Tat war der Fluß ganz
    voller Röhricht. Dann, als der Herbst kam, flogen die Schwalben alle davon.


    Da sie nun fort waren, fühlte der kleine Vogel sich einsam und fing an, seiner
    Dame überdrüssig zu werden. »Man kann sich gar nicht mit ihr unterhalten«,
    sagte er, »und mir scheint fast, sie ist kokett, denn allzeit flirtet sie mit
    dem Wind.« Und wirklich, wann immer der Wind wehte, grüßte sie ihn mit den
    anmutvollsten Verneigungen. »Ich gebe zu, sie ist häuslich«, fuhr der Vogel
    fort, »aber ich liebe das Reisen, und folglich sollte meine Frau es auch
    lieben.«


    »Willst du mit mir kommen?« fragte er sie schließlich; aber sie schüttelte nur
    den Kopf, sie wurzelte allzu fest in ihrem Heim. »Du hast dein Spiel mit mir
    getrieben!« schrie er. »Ich mache mich davon nach den Pyramiden. Leb wohl!« Und
    er flog von dannen.


    Den ganzen Tag flog er, und im Abenddämmern kam er in der Stadt an. »Wo soll
    ich absteigen?« sagte er zu sich. »Hoffentlich haben sie hier ihre Zurüstungen
    getroffen.«


    Dann sah er das Standbild auf der hohen Säule.


    »Dort will ich absteigen«, rief er, »die Lage ist schön, und frische Luft
    gibt‘s da oben genug.« Damit ließ er sich just zwischen den Füßen des
    glücklichen Prinzen nieder.


    »Ich habe ein goldenes Schlafzimmer«, sagte der kleine Vogel träumerisch zu
    sich selber, als er um sich blickte, und machte sich zum Schlafengehen bereit;
    aber da er eben den Kopf unter den Flügel stecken wollte, fiel ein großer
    Tropfen Wasser auf ihn herab. »Wie sonderbar!« rief er, »nicht ein einziges
    Wölkchen steht am Himmel, die Sterne scheinen klar und hell, und dabei regnet
    es. Das Klima im nördlichen Europa ist wirklich schauderhaft. Das Schilfrohr
    schwärmte zwar für Regen, aber das war nichts als Egoismus.«


    Da fiel ein zweiter Tropfen.


    »Wozu nützt ein Standbild, wenn es nicht einmal den Regen abhalten kann?« sagte
    er, »ich muß mich nach einem soliden Schornsteinaufsatz umsehen «, und er
    beschloß weiterzufliegen.


    Doch ehe er seine Flügel ausgebreitet hatte, fiel ein dritter Tropfen, und er
    blickte auf und sah ... Ah, was sah er?


    Die Augen des glücklichen Prinzen waren voll Tränen, und Tränen strömten ihm
    über die goldenen Wangen. Sein Antlitz war so schön im Mondlicht, daß Mitleid
    die kleine Schwalbe erfüllte.


    »Wer bist du?« fragte sie.


    »Ich bin der glückliche Prinz.«


    »Warum weinst du dann?« fragte die Schwalbe, »ich bin davon ganz naß geworden.«


    »Als ich lebte und ein Menschenherz besaß«, erwiderte das Standbild, »wußte ich
    nicht, was Tränen sind, denn ich lebte im Schloß Sorgenlos, das kein Leid
    betreten darf. Am Tage spielte ich mit meinen Gespielen im Garten, und des
    Abends führte ich den Tanz im großen Saale an. Rings um den Garten lief eine
    sehr hohe Mauer; aber nie kam mir die Frage, was dahinter sein möge, denn alles
    um mich her war so schön. Die Herren vom Hofe nannten mich den glücklichen
    Prinzen, glücklich war ich fürwahr, wofern Freude Glück bedeutet. So lebte ich,
    so starb ich. Und nun, da ich tot bin, haben sie mich in solche Höhe hier
    heraufgestellt, daß ich alles sehen kann, was häßlich, alles, was jammervoll
    ist in meiner Stadt, und wenn ich auch ein bleiernes Herz habe - wie sollte ich
    nicht weinen?«


    »Was, er ist nicht aus massivem Gold?« fragte sich die Schwalbe im stillen. Sie
    war zu höflich, um irgendwelche anzüglichen Bemerkungen laut auszusprechen.


    »Weit entfernt von hier«, fuhr das Standbild mit leiser, melodischer Stimme
    fort, »weit entfernt von hier in einer kleinen Gasse steht ein ärmliches Haus.
    Eins der Fenster ist offen, und durch dieses Fenster kann ich eine Frau an
    einem Tische sitzen sehen. Ihr Gesicht ist mager und verhärmt, rauh und rot
    sind ihre Hände und ganz von der Nadel zerstochen, denn sie ist eine Näherin.
    Sie stickt Passionsblumen auf ein Atlaskleid, das die reizendste unter den
    Ehrendamen der Königin beim nächsten Hofball tragen will. In einer Ecke der
    Kammer liegt ihr kleiner Junge krank im Bett. Er fiebert und möchte so gerne
    Orangen. Seine Mutter aber hat nichts ihm zu geben als Wasser aus dem Fluß, und
    deshalb weint er. Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe, willst du ihr nicht den
    Rubin aus meinem Schwertknauf bringen? Meine Füße sind an dies Postament
    gefesselt, und ich kann nicht hinab.«


    »Ich werde in Ägypten erwartet«, sagte die Schwalbe. »Meine Freunde fliegen den
    Nil auf und nieder und plaudern mit den prangenden Lotosblumen. Bald werden sie
    im Grabmal des großen Königs schlafen gehen. Der König selbst liegt dort unten
    in seinem buntbemalten Sarge. Er ist in ein gelbes Leintuch gewickelt und mit
    Wohlgerüchen einbalsamiert. Um seinen Nacken schlingt sich eine Kette von
    blaßgrüner Jade, und seine Hände sind wie welkes Laub.«


    »Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »willst du nicht eine
    Nacht lang bei mir bleiben und mein Bote sein? Der Knabe verschmachtet, und der
    Mutter ist so bang.«


    »Ich kann Jungen eigentlich gar nicht leiden«, entgegnete die Schwalbe. »An dem
    Flusse, wo ich vorigen Sommer wohnte, waren zwei ungezogene Jungen, die
    Müllerssöhne; die warfen immerfort mit Steinen nach mir. Sie haben mich
    natürlich nie getroffen, wir Schwalben fliegen dafür viel zu gut, und überdies
    stamme ich aus einer Familie, die wegen ihrer Hurtigkeit berühmt ist; es war
    aber doch ein Zeichen von Nichtachtung.« Aber der glückliche Prinz sah so
    traurig aus, daß es die kleine Schwalbe jammerte. »Es ist sehr kalt hier«,
    sagte sie, »doch ich will eine Nacht lang bei dir bleiben und dein Bote sein.«


    »Danke, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz.


    Also pickte die Schwalbe den großen Rubin aus des Prinzen Schwert, und den
    Edelstein im Schnabel, flog sie davon, über die Dächer der Stadt.


    Sie kam am Turm der Kathedrale vorüber, von dem die weißen Marmorengel
    niederschauten. Sie kam am Schloß vorüber und hörte den Lärm des Balles. Ein
    schönes Mädchen trat mit seinem Anbeter auf den Altan hinaus. »Wie wunderreich
    die Sterne sind«, sagte er zu ihr, »und wie wunderreich ist die Macht der
    Liebe!«


    »Hoffentlich wird mein Kleid rechtzeitig für den Hofball fertig«, antwortete
    sie. »Ich habe Auftrag gegeben, daß Passionsblumen daraufgestickt werden; aber
    die Näherinnen sind so faul.«


    Die Schwalbe flog über den Fluß und sah die Laternen an den Masten der Schiffe
    hängen. Sie flog über das Getto und sah die alten Juden miteinander handeln und
    Geld auf kupfernen Waagschalen wägen. Endlich kam sie zu dem armen Häuschen und
    blickte hinein. Der Knabe warf sich fieberheiß im Bette hin und her, und die
    Mutter war eingeschlafen, sie war so müde. Durchs Fenster hinein hüpfte die
    Schwalbe und legte den großen Rubin auf den Tisch, neben den Fingerhut der
    Schlafenden. Dann umflog sie mit weichen Flügelschlägen das Bett, und ihre
    Schwingen fächelten des Knaben Stirn. »Wie kühl mir ist«, sagte der Knabe, »ich
    glaube, nun werde ich gesund.« Und er sank in einen erquickenden Schlummer.


    Darauf flog die Schwalbe zurück zu dem glücklichen Prinzen und erzählte ihm,
    was sie getan hatte. »Es ist sonderbar«, bemerkte sie, »aber mich friert jetzt
    gar nicht mehr, obwohl es so kalt ist.«


    »Das kommt, weil du eine gute Tat getan hast«, sagte der Prinz. Und die kleine
    Schwalbe begann darüber nachzudenken, und dann schlief sie ein. Denken machte
    sie immer schläfrig.


    Als es tagte, flog sie hinab zum Fluß und nahm ein Bad. »Welch bemerkenswertes
    Phänomen!« sagte der Professor der Ornithologie, der eben über die Brücke ging.
    »Eine Schwalbe im Winter!« Und er schrieb über diesen Gegenstand einen langen
    Artikel für die Lokalzeitung. Jedermann zitierte ihn, er war voll so vieler Wörter,
    die niemand verstand.


    »Heute abend reise ich nach Ägypten«, sagte der kleine Vogel, und er fühlte
    sich ganz angeregt von dieser Aussicht. Er besuchte alle Denkmäler und
    bedeutenden Bauten der Stadt und saß lange auf der Kirchturmspitze. Wo er auch hinkam,
    überall riefen die Spatzen zwitschernd einander zu: »Was für ein vornehmer
    Fremder!« So unterhielt sich die Schwalbe ganz ausgezeichnet.


    Als der Mond aufging, flog sie zurück zu dem glücklichen Prinzen. »Soll ich in
    Ägypten etwas für dich ausrichten?« rief sie. »Ich breche jetzt auf.«


    »Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »willst du nicht diese
    eine Nacht noch bei mir bleiben?«


    »Ich werde in Ägypten erwartet«, antwortete die Schwalbe. »Morgen fliegen meine
    Freunde hinauf zum zweiten Katarakt. Das Nilpferd ruht dort zwischen den
    Binsen, und auf einem großen granitenen Throne sitzt der Gott Memnon. Die ganze
    Nacht hindurch schaut er nach den Sternen, und wenn das Morgengestirn aufgeht,
    stößt er einen einzigen tönenden Jubelschrei aus und schweigt dann wieder
    still. Zu Mittag kommen die gelben Löwen herab zum Ufersaum, um zu trinken. Sie
    haben Augen gleich grünen Beryllen, und ihr Gebrüll ist mächtiger als das
    Brüllen des Katarakts.«


    »Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »weit entfernt von
    hier, am Ende der Stadt, sehe ich einen jungen Mann in einer Dachkammer. Er
    beugt sich über ein Schreibpult, das mit Papieren bedeckt ist, und ein Bund
    verdorrter Veilchen steht neben ihm in einem Wasserglas. Sein Haar ist braun und
    gelockt, und er hat große verträumte Augen, und seine Lippen sind wie ein
    Granatapfel rot. Er müht sich, ein Stück für den Theaterdirektor zu vollenden,
    aber er friert so sehr, daß er nicht weiterschreiben kann. Kein Feuer brennt in
    seinem Kamin, und der Hunger hat ihn entkräftet.«


    »Ich will diese eine Nacht noch bei dir bleiben«, sagte die Schwalbe, die
    wirklich ein gutes Herz hatte. »Soll ich ihm auch einen Rubin bringen?«


    »Ach nein, ich habe keinen Rubin mehr«, sagte der Prinz, »meine Augen sind alles,
    was mir geblieben ist. Sie sind aus köstlichen Saphiren gemacht, die man vor
    tausend Jahren aus Indien hergebracht hat. Reiß eines von ihnen aus und trag es
    zu ihm hin. Er wird den Edelstein zum Goldschmied bringen und Nahrung und
    Feuerholz kaufen und sein Stück vollenden.«


    »Lieber Prinz«, sagte die Schwalbe, »das kann ich nicht.« Und sie begann zu
    weinen.


    »Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »tu, wie ich dich
    heiße.«


    Also riß die Schwalbe des Prinzen eines Auge aus und flog fort zur Dachkammer
    des Studenten. Es war leicht genug, hineinzugelangen, denn das Dach hatte ein
    Loch. Da hindurch schoß sie und kam in die Kammer. Der junge Mann hatte den
    Kopf in den Händen vergraben; so hörte er das Flattern der Vogelschwingen
    nicht, und als er aufsah, fand er den schönen Saphir, der auf den verdorrten
    Veilchen lag.


    »Man beginnt mich anzuerkennen«, rief er, »dies hier kommt gewiß von einem
    großen Bewunderer. Nun kann ich mein Stück vollenden«, und er sah ganz
    glücklich aus.


    Am nächsten Tage flog die Schwalbe hinunter zum Hafen. Sie saß auf dem Mast
    eines gewaltigen Schiffes und sah zu, wie die Matrosen schwere Kisten an Tauen
    aus dem Schiffsleib hochwanden. »Hievt, a-hoi! a-hoi!« schrien sie bei jeder
    Kiste, die sie aufhievten. »Ich reise nach Ägypten!« rief die Schwalbe; aber
    niemand beachtete sie, und als der Mond aufging, flog sie zurück zu dem
    glücklichen Prinzen.


    »Ich bin gekommen, dir Lebewohl zu sagen«, rief sie.


    »Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »willst du nicht diese
    eine Nacht noch bei mir bleiben?«


    »Es ist Winter«, antwortete die Schwalbe, »und der eisige Schnee wird bald
    dasein. In Ägypten scheint die Sonne warm auf die grünen Palmenbäume, und die
    Krokodile liegen im Schlamm und blicken träge um sich. Meine Gefährten bauen
    ein Nest im Tempel von Baalbek, und die weiß- und rosenfarbenen Tauben sehen
    ihnen zu, und eine gurrt der andern Zärtlichkeiten. Lieber Prinz, ich muß
    Abschied nehmen, aber ich will dich nie vergessen, und im nächsten Frühling
    bringe ich dir zwei schöne Edelsteine statt derer, die du weggegeben hast.


    Der Rubin soll röter sein als eine rote Rose, und der Saphir so blau wie die
    weite See.«


    »Auf dem Platze unten«, sagte der glückliche Prinz, »steht ein kleines Mädchen
    und verkauft Streichhölzer. Sie hat ihre Hölzchen in die Gosse fallen lassen,
    und sie sind ganz verdorben.


    Ihr Vater wird sie schlagen, wenn sie kein Geld nach Hause bringt, und darum
    weint sie. Sie hat nicht Strümpfe noch Schuhe, und ihr Köpfchen ist bloß. Reiß
    mein anderes Auge aus und gib es ihr, und ihr Vater wird sie nicht schlagen.«
    »Ich will diese eine Nacht noch bei dir bleiben«, sagte die Schwalbe, »aber ich
    kann dir das Auge nicht ausreißen. Du wärest dann ja ganz blind.«


    »Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »tu, wie ich dich
    heiße.«


    Da riß sie des Prinzen anderes Auge aus und stieß damit hinab auf den Platz.
    Sie schwirrte an dem Streichholzmädchen vorbei und ließ das Juwel in ihre Hand
    gleiten. »Was für ein hübsches Stückchen Glas!« rief die Kleine; und lachend
    lief sie heim.


    Dann kam die Schwalbe zurück zu dem Prinzen. »Du bist nun blind«, sagte sie,
    »so will ich immerdar bei dir bleiben.«


    »Nein, kleine Schwalbe«, sagte der arme Prinz, »du mußt nach Ägypten reisen.«


    »Ich will immerdar bei dir bleiben«, sagte die Schwalbe, und zu Füßen des
    Prinzen schlief sie ein.


    Den ganzen folgenden Tag saß sie auf des Prinzen Schulter und erzählte ihm von
    allerlei Seltsamem, das sie in fremden Landen geschaut hatte. Sie erzählte ihm
    von den roten Ibissen, die in langen Reihen an den Ufern des Niles stehen und
    mit ihren Schnäbeln Goldfische fangen; von der Sphinx, die so alt ist wie die
    Welt und in der Wüste lebt und jedes Ding weiß; von den Kaufleuten, die
    gemessenen Schrittes zur Seite ihrer Kamele gehen und Rosenkränze aus Bernstein
    in den Händen tragen; von dem König der Mondberge, der schwarz ist wie Ebenholz
    und einen riesigen Kristall anbetet; von der großen grünen Schlange, die in
    einem Palmbaum schläft und zwanzig Priester um sich hat, ihr zu dienen und sie
    mit Honigkuchen zu füttern; und von den Pygmäen, die über einen großen See auf
    flachen breiten Blättern segeln und allzeit im Krieg liegen mit den
    Schmetterlingen.


    »Liebe kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »du erzählst mir von wundersamen
    Dingen, aber wundersamer als alles in der Welt ist das Menschenleid. Kein
    Wunder ist so tief wie die Wunden des Elends. Flieg über meine Stadt, kleine
    Schwalbe, und erzähl mir, was du dort siehst.«


    So flog die kleine Schwalbe über die große Stadt und sah, wie sich's die
    Reichen in ihren schönen Häusern wohl sein ließen, indes die Bettler draußen an
    den Toren saßen. Sie flog in dunkle Gassen und sah die weißen Gesichter
    hungernder Kinder, die unfroh auf die düsteren Straßen blickten. Unter einem
    Brückenbogen lagen zwei kleine Jungen, einer in des andern Arm geschmiegt, um
    sich zu wärmen. »Wir haben solchen Hunger!« sagten sie. »Ihr dürft hier nicht
    liegen!« brüllte der Wächter, und sie gingen hinaus in den Regen.


    Da flog die Schwalbe zurück und erzählte dem Prinzen, was sie gesehen hatte.


    »Ich bin mit feinem Golde bedeckt«, sagte der Prinz, »das sollst du abheben,
    Blatt um Blatt, und meinen Armen geben; die Lebenden meinen, daß Gold sie
    glücklich machen könne.« Blatt für Blatt des feinen Goldes pickte die Schwalbe
    ab, bis der glückliche Prinz ganz stumpf und grau aussah. Blatt für Blatt des
    feinen Goldes brachte sie den Armen, und die Wangen der Kinder erblühten, und
    sie lachten und spielten ihre Spiele auf den Straßen. »Nun haben wir Brot!«
    riefen sie.


    Dann kam der Schnee, und nach dem Schnee kam der Frost. Die Straßen sahen aus,
    als wären sie aus Silber geschmiedet, so hell glitzerten sie; lange Eiszapfen,
    kristallenen Dolchen gleich, hingen von den Dächern der Häuser, alle Welt ging
    in Pelzen einher, und die kleinen Jungen trugen rote Wollkappen und liefen
    Schlittschuh auf dem Eise.


    Die arme kleine Schwalbe fror und fror immer ärger, aber sie wollte den Prinzen
    nicht verlassen, dazu hatte sie ihn zu lieb. Sie pickte Krumen vor der Tür des
    Bäckers auf, wenn der Bäcker nicht hinsah, und suchte sich zu wärmen, indem sie
    mit den Flügeln schlug.


    Endlich aber erkannte sie, daß sie sterben müsse. Sie hatte gerade noch Kraft
    genug, sich noch einmal auf des Prinzen Schulter zu schwingen. »Leb wohl,
    lieber Prinz!« sagte sie leise, »darf ich deine Hand küssen?«


    »Ich freue mich, daß du endlich nach Ägypten reisest, kleine Schwalbe«, sagte
    der Prinz, »du bist schon viel zu lange hiergeblieben; aber du mußt mich auf
    die Lippen küssen, denn ich liebe dich.«


    »Nicht nach Ägypten reise ich«, sagte die Schwalbe, »ich reise zum Haus des
    Todes. Der Tod ist der Bruder des Schlafes, ist's nicht so?«


    Und sie küßte den glücklichen Prinzen auf die Lippen und fiel tot zu seinen
    Füßen nieder.


    In diesem Augenblick tönte aus dem Innern des Standbildes ein seltsames
    Knacken, als ob etwas zerbrochen wäre. Und wirklich, das bleierne Herz war
    mitten entzweigesprungen. Es war ja auch eine grimmig kalte Nacht.


    Früh am nächsten Morgen ging der Bürgermeister mit den Ratsherren unten über
    den Platz. Als sie an der Säule vorbeikamen, blickte er hinauf zu dem
    Standbild. »Ach, du liebe Zeit! Wie armselig der glückliche Prinz aussieht!«
    sagte er. »Gewiß, wie armselig!« riefen die Ratsherren, die stets einer Meinung
    mit dem Bürgermeister waren; und sie stiegen hinauf, um den Schaden von der
    Nähe zu besehen.


    »Der Rubin ist aus seinem Schwert gefallen, die Augen sind weg, und er ist gar
    nicht mehr golden«, sagte der Bürgermeister. »Er sieht buchstäblich kaum besser
    aus als ein Bettler.«


    »Kaum besser als ein Bettler«, sagten die Ratsherren. »Und hier liegt
    wahrhaftig ein toter Vogel vor seinen Füßen!« fuhr der Bürgermeister fort. »Wir
    müssen tatsächlich eine Verordnung erlassen, daß es Vögeln verboten ist, hier
    zu sterben.« Und der Stadtschreiber notierte sich diesen Hinweis. Also wurde
    das Standbild des glücklichen Prinzen herabgeholt. »Da er nicht mehr schön ist,
    ist er nicht mehr nützlich«, sagte der Kunstprofessor der Universität.


    Darauf schmolzen sie das Standbild in einem Schmelzofen, und der Bürgermeister
    hielt eine Sitzung mit dem Stadtrat ab, um zu entscheiden, was mit dem Metall
    geschehen solle.

    »Wir
    müssen selbstverständlich ein neues Standbild haben«, sagte er, »und das soll
    mein eigenes Standbild sein.« »Mein eigenes«, sagte jeder der Ratsherren, und
    sie zankten sich und stritten. Als ich zuletzt von ihnen hörte, stritten sie
    sich noch immer.


    »Ist das aber merkwürdig!« sagte der Werkmeister in der Schmelzhütte. »Dieses
    zerbrochene Herz will im Ofen nicht schmelzen. Wir müssen es wegwerfen.« So
    warfen sie es auf einen Kehrichthaufen, auf dem auch die tote Schwalbe lag.
    »Bring mir die beiden kostbarsten Dinge dieser Stadt«, sagte Gott zu einem
    seiner Engel; und der Engel brachte ihm das bleierne Herz und den toten Vogel.


    »Du hast recht gewählt«, sagte Gott, »denn in meinem Paradiesgarten soll der
    kleine Vogel singen für und für, und in meiner goldenen Stadt soll der
    glückliche Prinz mich lobpreisen.