Ökonomie im Interview: Justin Yifu Lin "Der Marxwirtschaftler"

Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

  • Ökonomie im Interview: Justin Yifu Lin "Der Marxwirtschaftler"

    Der neue Chefvolkswirt der Weltbank Lin ist ein chinesischer Funktionär. Ein Interview über Exporte, Entwicklung – und Demokratie.


    DIE ZEIT: Was für eine eigenartige Karriere. Sie haben im marxistischen Peking und im liberalen Chicago studiert, beraten die chinesische Regierung und gehen jetzt als Chefvolkswirt zur Weltbank. Was sind Sie denn nun, Marktwirtschaftler oder Marxist?

    Justin Yifu Lin: Eine Kombination. In Chicago habe ich gelernt: Der Markt hat in einer idealen Welt ohne Verzerrungen die besten Lösungen. In der Realität gibt es aber eine ganze Reihe von Verzerrungen, vor allem in Entwicklungsländern. Ich bin insofern Marxist, als dass ich glaube, dass man diese Faktoren berücksichtigen muss, die Qualität der Institutionen also und das historische Erbe. Bevor wir auf die Einführung der Marktwirtschaft drängen, müssen wir diese Dinge verstehen.

    ZEIT: Ist das ein neues Entwicklungsmodell für die häufig liberal denkende Weltbank?

    Lin: Ich gehe nicht mit einem Modell dorthin. Eher glaube ich an einen diagnostischen Ansatz in der Entwicklungspolitik. Jedes Land hat seine speziellen Entwicklungschancen und Hindernisse, und die müssen wir identifizieren. Als internationale Institution können wir da mit unseren Ressourcen helfen. Es wäre falsch, zu sagen: Wir haben die Lösung für eure Schwierigkeiten.

    ZEIT: Aber früher hat die Weltbank genau das getan. Sie hat aggressiv darauf gedrängt, dass wirtschaftsliberale Reformen durchgesetzt werden.

    Lin: Als ich 1979 aus Taiwan nach China kam, gab es einen großen Umbruch…

    ZEIT: …damals begann die Öffnungs- und Reformpolitik unter Deng Xiaoping.

    Lin: Ja, und ich glaube, dass ich jetzt in einer ähnlichen Phase zur Weltbank komme. Wie Sie sagen, hat die Weltbank ihre frühere Politik an einigen wenigen Grundüberzeugungen ausgerichtet. Jetzt verstehen auch in Washington immer mehr Menschen, dass ein diagnostischer Ansatz nötig ist.

    ZEIT: Können andere Länder vom chinesischen Vorbild lernen?

    Lin: Ja, zum Beispiel, dass man einen Schritt nach dem nächsten tun sollte. Und dass der Washingtoner Konsens…

    ZEIT: …das frühere entwicklungspolitische Leitbild der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, das marktwirtschaftliche Reformen propagierte…

    Lin: …nur in einer idealen Welt funktioniert. Aber man kann die Erfolge aus einem Land nicht einfach auf ein anderes übertragen. Der Reformprozess in China begann in der Landwirtschaft. Den Bauern wurde Land überlassen, das sie selbst bewirtschaften konnten. China ist dicht besiedelt, die Landflächen sind klein, die Entfernung vom Hof zum Markt ist gering. Chinas Bauern konnten also sofort loslegen und ihre Produkte verkaufen. Als Michail Gorbatschow versuchte, ähnliche Reformen in Russland durchzusetzen, scheiterte er. In Russland, sind die Farmen und die Entfernungen sehr groß, deshalb hat es nicht funktioniert.

    ZEIT: Manches am chinesischen Entwicklungsmodell ist ja auch deshalb so schwer zu kopieren, weil es auf Kosten anderer Länder geht. Ihr Land verletzt geistige Eigentumsrechte. Es hält seine Währung künstlich niedrig, um den Export anzukurbeln.

    Lin: Zuerst zum Thema geistiges Eigentum. Die chinesische Regierung hat sich des Problems bereits angenommen, auch im eigenem Interesse. Von einem bestimmten Entwicklungsstadium an sind Investitionen in Forschung und Entwicklung nötig. Ohne einen gewissen Schutz des geistigen Eigentums zahlen sich diese nicht aus. Fälle, in denen Eigentumsrechte verletzt werden, gibt es auch in Industriestaaten.

    ZEIT: Doch in China sind sie besonders verbreitet und aggressiv.

    Lin: Das sehe ich nicht so.

    ZEIT: Gerade in entwicklungspolitischen Kreisen hört man ab und zu die Meinung, dass ärmere Länder es mit dem Schutz geistigen Eigentums nicht so genau nehmen sollten. Dann könnten möglichst viele Menschen an den Früchten technologischer Errungenschaften teilhaben.

    Lin: Einige Forscher argumentieren so, aber ich glaube nicht, dass das eine Politik der Weltbank werden sollte. Es gibt Alternativen. Zum Beispiel könnten Regierungen moderne Technologien erwerben und dann das entsprechende Wissen an die Bevölkerung abgeben. Es muss sichergestellt werden, dass derjenige, der die Forschungsarbeit leistet, kompensiert wird.

    ZEIT: Und der Vorwurf des chinesischen Wechselkursdumpings?

    Lin: Die Sache ist komplizierter. Wenn Entwicklungsländer wirtschaftlich aufholen, investieren sie viel in Industrien, die für die Modernisierung besonders wichtig sind. Deshalb produziert man mehr, als man im eigenen Land braucht. Der Rest wird exportiert. Das war so nicht nur in China, sondern auch in Korea, in Japan – und in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Es geht darum, Schlüsselindustrien zu fördern. Der Export ist eine Nebenwirkung.

    ZEIT: Der Wechselkurs spielt keine Rolle? Wenn die Währung abwertet, kurbelt das doch den Export an.

    Lin: Die Rolle des Wechselkurses wird überschätzt. Wenn Sie Überkapazitäten haben, werden Sie exportieren.

    ZEIT: Ein Ergebnis des chinesischen Exporterfolges sind gewaltige Devisenberge. China kann heute viel mehr Geld in aller Welt investieren als die Weltbank. Sehen Sie Ihren Schritt nach Washington da nicht als beruflichen Abstieg?

    Lin: Die Weltbank ist immer noch die größte internationale Entwicklungsorganisation. Sie hat wesentlich mehr Ressourcen für die Entwicklungspolitik als China.

    ZEIT: Das stimmt für Entwicklungshilfe im engeren Sinne, aber die Bedeutung der sonstigen Kapitalflüsse nimmt zu.

    Lin: Ja, die sind wesentlich größer als die Entwicklungshilfe. Doch private Kapitalgeber wollen Geld verdienen. Die Weltbank kann sich auch um andere Projekte kümmern, etwa um Pilotinvestitionen.

    ZEIT: Und das Engagement staatlicher Unternehmen und Fonds? In Europa und den USA wächst die Sorge, dass diese strategische und geopolitische Ziele verfolgen.

    Lin: Der chinesische Staatsfonds wurde eingerichtet, weil wir deutlich mehr Reserven haben, als wir zur Stabilisierung brauchen. Mein Eindruck ist, dass es den meisten Fonds schlicht darum geht, hohe Renditen zu erwirtschaften. Sie handeln daher wie Unternehmen. Der chinesische Staatsfonds CIC zum Beispiel muss an das Finanzministerium fünf Prozent Zinsen zahlen – gar nicht leicht, das zu erwirtschaften. Viele Fonds verstehen übrigens zu wenig von den Unternehmen, an denen sie Anteile halten, um sich in die Geschäftspolitik einzumischen.

    ZEIT: China investiert besonders viel in Afrika. Das wird im Westen mit Argwohn verfolgt.

    Lin: Es gibt zwei Arten des chinesischen Engagements in Afrika. Die eine ist mit Bodenschätzen verbunden, Öl zum Beispiel. Hier geht es um geschäftliche Interessen sowie um die Sicherung der Versorgung. Diese Engagements müssen gute Geschäfte sein. Und dann gibt es Projekte, die von der chinesischen Entwicklungsbank finanziert werden. Hier geht es um Infrastruktur und Ähnliches.

    ZEIT: Entwicklungshilfe wird selten selbstlos vergeben. Welche strategischen Interessen verfolgt die chinesische Regierung damit?

    Lin: Beide Seiten profitieren. Ohne solche Investitionen in die Infrastruktur kann es diesen Ländern nicht gelingen, Rohstoffe zu vermarkten.

    ZEIT: China vergibt sein Geld, ohne auf die Einhaltung sozialer, rechtlicher oder ökologischer Mindeststandards zu bestehen. Ist es falsch, solche Bedingungen zu stellen?

    Lin: Wenn Länder reicher werden, werden sie auch liberaler. Wenn wir mit unseren Projekten dazu beitragen, dass die Wirtschaft wächst, dann versetzen wir die Regierungen in die Lage, das Richtige für ihre Menschen und Nationen zu tun.

    ZEIT: In China herrscht aber ein anderes Verständnis von Staat und Gesellschaft vor als im Westen.

    Lin: Je weiter die Entwicklung voranschreitet, desto mehr individuelle Freiheitsrechte werden die Menschen haben. Sie werden entscheiden können, wo sie leben wollen und wie sich am sozialen, politischen und wirtschaftlichen Prozess beteiligen wollen. Als ich 1982 nach Chicago ging, dauerte es noch sechs Monate, bis ich meinen Pass bekam. Ich musste viele Formulare ausfüllen. Heute ist das kein Problem mehr, Sie bekommen Ihren Pass in sechs Tagen.

    ZEIT: Steht am Ende dieser Entwicklung eine Demokratie nach westlichem Vorbild?

    Lin: Es gibt auch im Westen unterschiedliche Formen der Demokratie. Die deutsche Demokratie unterscheidet sich von der britischen oder der amerikanischen. Ich bin sicher, dass wir eine Demokratie haben werden, aber es wird eine mit besonderen chinesischen Merkmalen sein.

    ZEIT: Reden wir zum Abschluss noch über die aktuelle Weltkonjunktur. In den USA fürchten viele eine Rezession. Gefährdet das den Boom in Asien?

    Lin: Es kommt darauf an, wie stark die Abschwächung ausfällt. Eine tiefe und schwere Rezession würde China treffen, aber ich glaube nicht, dass es dazu kommt. Die Politik hat heute Instrumente, um das zu verhindern. Zudem ist unser Export vom Auf- und Ab der Konjunktur nicht so stark abhängig wie die Ausfuhren anderer Länder. Textilien werden anders als etwa Autos auch in schlechten Zeiten nachgefragt.

    ZEIT: Wann wird China den USA den Rang als größte Wirtschaftsmacht ablaufen?

    Lin: In 20 bis 30 Jahren. Berücksichtigt man die unterschiedliche Kaufkraft der Währungen, sogar in 15 bis 20 Jahren.

    Quelle: Die Zeit