Auszug aus der Nobelrede des Literaturnobelpreisträgers 2005, Harold Pinter, zum Thema “Kunst, Wahrheit & Politik”:

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  • Auszug aus der Nobelrede des Literaturnobelpreisträgers 2005, Harold Pinter, zum Thema “Kunst, Wahrheit & Politik”:

    „Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich und
    dem was unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr und
    dem was unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder
    unwahr; es kann beides sein, wahr und unwahr.“

    Ich halte diese Behauptungen immer noch für plausibel und weiterhin
    gültig für die Erforschung der Wirklichkeit durch die Kunst. Als Autor
    halte ich mich daran, aber als Bürger kann ich das nicht. Als Bürger muss ich fragen: Was ist wahr? Was ist unwahr? (…)

    (…) Politische Sprache, so wie Politiker sie gebrauchen, wagt sich
    auf keines dieser Gebiete, weil die Mehrheit der Politiker, nach den
    uns vorliegenden Beweisen, an der Wahrheit kein Interesse hat sondern
    nur an der Macht und am Erhalt dieser Macht. Damit diese Macht erhalten
    bleibt, ist es unabdingbar, dass die Menschen unwissend bleiben, dass
    sie in Unkenntnis der Wahrheit leben, sogar der Wahrheit ihres eigenen
    Lebens. Es umgibt uns deshalb ein weitverzweigtes Lügengespinst, von
    dem wir uns nähren.

    Wie jeder der hier Anwesenden weiß, lautete die Rechtfertigung für
    die Invasion des Irak, Saddam Hussein verfüge über ein hoch
    gefährliches Arsenal an Massenvernichtungswaffen, von denen einige
    binnen 45 Minuten abgefeuert werden könnten, mit verheerender Wirkung. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit.
    Man erzählte uns, der Irak unterhalte Beziehungen zu al-Qaida und trage
    Mitverantwortung für die Gräuel in New York am 11. September 2001. Man
    versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzählte
    uns, der Irak bedrohe die Sicherheit der Welt. Man versicherte uns es
    sei wahr. Es war nicht die Wahrheit.

    Die Wahrheit sieht völlig anders aus. Die Wahrheit hat damit zu tun,
    wie die Vereinigten Staaten ihre Rolle in der Welt auffassen und wie
    sie sie verkörpern wollen. (…)

    (…) Jeder weiß, was in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa während
    der Nachkriegszeit passierte: die systematische Brutalität, die weit
    verbreiteten Gräueltaten, die rücksichtslose Unterdrückung
    eigenständigen Denkens. All dies ist ausführlich dokumentiert und
    belegt worden.

    Aber ich behaupte hier, dass die Verbrechen der USA im selben
    Zeitraum nur oberflächlich protokolliert, geschweige denn dokumentiert,
    geschweige denn eingestanden, geschweige denn überhaupt als Verbrechen
    wahrgenommen worden sind. Ich glaube, dass dies benannt werden muss,
    und dass die Wahrheit beträchtlichen Einfluss darauf hat, wo die Welt
    jetzt steht. Trotz gewisser Beschränkungen durch die Existenz der
    Sowjetunion, machte die weltweite Vorgehensweise der Vereinigten
    Staaten ihre Überzeugung deutlich, für ihr Handeln völlig freie Hand zu
    besitzen.

    Die direkte Invasion eines souveränen Staates war eigentlich
    nie die bevorzugte Methode der Vereinigten Staaten. Vorwiegend haben
    sie den von ihnen sogenannten „Low Intensity Conflict“ favorisiert.

    „Low Intensity Conflict“ bedeutet, dass tausende von Menschen sterben
    aber langsamer als würde man sie auf einen Schlag mit einer Bombe
    auslöschen. Es bedeutet, dass man das Herz des Landes infiziert, dass
    man eine bösartige Wucherung in Gang setzt und zuschaut wie der
    Faulbrand erblüht. Ist die Bevölkerung unterjocht worden oder
    totgeprügelt es läuft auf dasselbe hinaus und sitzen die eigenen
    Freunde, das Militär und die großen Kapitalgesellschaften, bequem am
    Schalthebel, tritt man vor die Kamera und sagt, die Demokratie habe
    sich behauptet.
    Das war in den Jahren, auf die ich mich hier beziehe, gang und gäbe in der Außenpolitik der USA.

    Die Tragödie Nicaraguas war ein hochsignifikanter Fall. Ich
    präsentiere ihn hier als schlagendes Beispiel für Amerikas Sicht seiner
    eigenen Rolle in der Welt, damals wie heute. (…)

    (…) Die Vereinigten Staaten unterstützten die brutale
    Somoza-Diktatur in Nicaragua über 40 Jahre. Angeführt von den
    Sandinisten, stürzte das nicaraguanische Volk 1979 dieses Regime, ein
    atemberaubender Volksaufstand.

    Die Sandinisten (…) machten sich daran, eine stabile, anständige,
    pluralistische Gesellschaft zu gründen. Die Todesstrafe wurde
    abgeschafft. Hunderttausende verarmter Bauern wurden quasi ins Leben
    zurückgeholt. Über 100.000 Familien erhielten Grundbesitz. Zweitausend
    Schulen entstanden. Eine äußerst bemerkenswerte
    Alphabetisierungskampagne verringerte den Anteil der Analphabeten im
    Land auf unter ein Siebtel. Freies Bildungswesen und kostenlose
    Gesundheitsfürsorge wurden eingeführt. Die Kindersterblichkeit ging um
    ein Drittel zurück. Polio wurde ausgerottet.

    Die Vereinigten Staaten denunzierten diese Leistungen als
    marxistisch-leninistische Unterwanderung. Aus Sicht der US-Regierung
    war dies ein gefährliches Beispiel. Erlaubte man Nicaragua, elementare
    Normen sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit zu etablieren, erlaubte
    man dem Land, den Standard der Gesundheitsfürsorge und des
    Bildungswesens anzuheben und soziale Einheit und nationale
    Selbstachtung zu erreichen, würden benachbarte Länder dieselben Fragen
    stellen und dieselben Dinge tun. Damals regte sich natürlich heftiger
    Widerstand gegen den in El Salvador herrschenden Status quo. (…)

    (…) Die Vereinigten Staaten stürzten schließlich die sandinistische
    Regierung. Es kostete einige Jahre und beträchtliche Widerstandskraft,
    doch gnadenlose ökonomische Schikanen und 30.000 Tote untergruben am
    Ende den Elan des nicaraguanischen Volkes. Es war erschöpft und erneut
    verarmt. Die Casinos kehrten ins Land zurück. Mit dem kostenlosen
    Gesundheitsdienst und dem freien Schulwesen war es vorbei. Das Big Business kam mit aller Macht zurück. Die ‘Demokratie’ hatte sich behauptet.

    Doch diese „Politik“ blieb keineswegs auf Mittelamerika
    beschränkt. Sie wurde in aller Welt betrieben. Sie war endlos. Und es
    ist, als hätte es sie nie gegeben.


    Nach dem Ende des 2. Weltkriegs unterstützten die
    Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt,
    und in vielen Fällen brachten sie sie erst hervor.
    Ich
    verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay,
    Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und
    natürlich Chile. Die Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können
    nie gesühnt und nie verziehen werden.

    In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben.
    Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der
    US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie
    gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben.
    Aber davon weiß man natürlich nichts.


    Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand.
    Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant,
    infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich
    darüber gesprochen. Das muss man Amerika lassen. Es hat weltweit eine
    ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben, und sich dabei
    als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender, sogar
    geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt.

    Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die größte Show der
    Welt ab, ganz ohne Zweifel. Brutal, gleichgültig, verächtlich und
    skrupellos, aber auch ausgesprochen clever. Als Handlungsreisende
    stehen sie ziemlich konkurrenzlos da, und ihr Verkaufsschlager heißt
    Eigenliebe. Ein echter Renner. Man muss nur all die amerikanischen
    Präsidenten im Fernsehen die Worte sagen hören: „das amerikanische
    Volk“, wie zum Beispiel in dem Satz: „Ich sage dem amerikanischen Volk,
    es ist an der Zeit, zu beten und die Rechte des amerikanischen Volkes
    zu verteidigen, und ich bitte das amerikanische Volk, den Schritten
    ihres Präsidenten zu vertrauen, die er im Auftrag des amerikanischen
    Volkes unternehmen wird.“

    Ein brillanter Trick. Mit Hilfe der Sprache hält man das Denken in Schach.
    Mit den Worten „das amerikanische Volk“ wird ein wirklich luxuriöses
    Kissen zur Beruhigung gebildet. Denken ist überflüssig. Man muss sich
    nur ins Kissen fallen lassen. Möglicherweise erstickt das Kissen die
    eigene Intelligenz und das eigene Urteilsvermögen, aber es ist sehr
    bequem. Das gilt natürlich weder für die 40 Millionen Menschen, die
    unter der Armutsgrenze leben, noch für die 2 Millionen Männer und
    Frauen, die in dem riesigen Gulag von Gefängnissen eingesperrt sind,
    der sich über die Vereinigten Staaten erstreckt.

    Den Vereinigten Staaten liegt nichts mehr am low intensity conflict.
    Sie sehen keine weitere Notwendigkeit, sich Zurückhaltung aufzuerlegen
    oder gar auf Umwegen ans Ziel zu kommen. Sie legen ihre Karten ganz
    ungeniert auf den Tisch. Sie scheren sich einen Dreck um die Vereinten
    Nationen, das Völkerrecht oder kritischen Dissens, den sie als machtlos
    und irrelevant betrachten. (…)

    (…) Ihre offiziell verlautbarte Politik definiert sich jetzt als
    „full spectrum dominance“. Der Begriff stammt nicht von mir sondern von
    ihnen. „Full spectrum dominance“ bedeutet die Kontrolle über Land, Meer, Luft und Weltraum, sowie aller zugehörigen Ressourcen.

    Die Vereinigten Staaten besitzen, über die ganze Welt verteilt, 702 militärische Anlagen in 132 Ländern,
    mit der rühmlichen Ausnahme Schwedens natürlich. Wir wissen nicht ganz
    genau, wie sie da hingekommen sind, aber sie sind jedenfalls da.

    Die Vereinigten Staaten verfügen über 8000 aktive und operative
    Atomsprengköpfe. Zweitausend davon sind sofort gefechtsbereit und
    können binnen 15 Minuten abgefeuert werden. Es werden jetzt neue
    Nuklearwaffensysteme entwickelt, bekannt als Bunker-Busters. Die stets
    kooperativen Briten planen, ihre eigene Atomrakete Trident zu ersetzen.
    Wen, frage ich mich, haben sie im Visier? Osama Bin Laden? Sie? Mich?
    Joe Dokes? China? Paris? Wer weiß das schon? Eines wissen wir
    allerdings, nämlich dass dieser infantile Irrsinn – der Besitz und
    angedrohte Einsatz von Nuklearwaffen – den Kern der gegenwärtigen
    politischen Philosophie Amerikas bildet. Wir müssen uns in
    Erinnerung rufen, dass sich die Vereinigten Staaten dauerhaft im
    Kriegszustand befinden und mit nichts zu erkennen geben, dass sie diese
    Haltung aufgeben.


    Abertausende wenn nicht gar Millionen Menschen in den USA
    sind nachweislich angewidert, beschämt und erzürnt über das Vorgehen
    ihrer Regierung
    , aber so wie die Dinge stehen, stellen sie
    keine einheitliche politische Macht dar – noch nicht. Doch die
    Besorgnis, Unsicherheit und Angst, die wir täglich in den Vereinigten
    Staaten wachsen sehen können, werden aller Wahrscheinlichkeit nach
    nicht schwinden.

    Ich weiß, dass Präsident Bush zahlreiche ausgesprochen fähige
    Redenschreiber hat, aber ich möchte mich freiwillig für den Job melden.
    Ich schlage folgende kurze Ansprache vor, die er im Fernsehen an die
    Nation halten kann. Ich sehe ihn vor mir: feierlich, penibel gekämmt,
    ernst, gewinnend, aufrichtig, oft verführerisch, manchmal mit einem
    bitteren Lächeln, merkwürdig anziehend, ein echter Mann.

    „Gott ist gut. Gott ist groß. Gott ist gut. Mein Gott ist gut.
    Bin Ladens Gott ist böse. Er ist ein böser Gott. Saddams Gott war böse,
    wenn er einen gehabt hätte. Er war ein Barbar. Wir sind keine Barbaren.
    Wir hacken Menschen nicht den Kopf ab. Wir glauben an die Freiheit. So
    wie Gott. Ich bin kein Barbar. Ich bin der demokratisch gewählte
    Anführer einer freiheitsliebenden Demokratie. Wir sind eine barmherzige
    Gesellschaft. Wir gewähren einen barmherzigen Tod auf dem elektrischen
    Stuhl und durch barmherzige Todesspritzen. Wir sind eine große Nation.
    Ich bin kein Diktator. Er ist einer. Ich bin kein Barbar. Er ist einer.
    Und er auch. Die alle da. Ich besitze moralische Autorität. Seht ihr
    diese Faust? Das ist meine moralische Autorität. Und vergesst das bloß
    nicht.
    “

    (…)

    Quelle / vollständige Rede @ nobelprize.org

    Siehe auch:

    Die Vollkommenheit ist unerreichbar. Gewiß ist die Vollkommenheit unerreichbar. Sie hat nur den Sinn, deinen Weg wie ein Stern zu leiten. Sie ist Richtung und Streben auf etwas hin.
    - Antoine de Saint-Exupéry, Die Stadt in der Wüste