oder Von der Last Deutscher zu sein, Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 1987, 367 S., ISBN: 3-89136-145-9
"Doch auf ihre Fragen bekamen meine Kinder nirgends anders Antwort, höchstens von solchen, die es selbst nicht mehr erlebt haben. Da erkannte ich, daß ich mich, wenn ich weiterhin schwiege, aufs neue schuldig machen würde. Deshalb will ich reden ..."
Hätten mehr Menschen bei uns den befreienden Mut von Renate Finkh, einer ehemaligen Nationalsozialistin gehabt, wäre sein Buch überflüssig gewesen und nie geschrieben worden, aber ...
"Die Bundesrepublik Deutschland hat einen Januskopf, ein Doppelantlitz, hat ihn immer gehabt, von Anfang an."
Und hinter dem einen Antlitz verbirgt sich ein Gehirn, in das auch mit der beredtesten Stimme keine Unordnung zu bringen ist. Das hat für jede Anklage ein Gegenbeispiel und für jede Aufforderung zur Verantwortung der eigenen Geschichte einen dummen Spruch aus leichtsinnig plappernden Mund parat, von wegen 'Gnade der späten Geburt' etcetera ... Das Verheerende am Konservatismus ist ja das 'Bewahrende' seines Charakters, da es eben nicht auf die 'wahren Werte des Lebens', sondern sein stures Un-Denken zu beziehen ist.
Schlimmer: Die Luft für diesen Saurier ist noch immer nicht dünn genug, als daß er sich endgültig zur letzten Ruhe legen könnte. Sein Schoß ist nach wie vor fruchtbar, davon zeugen Neo-Nazis im Besonderen, Ausländerfeindlichkeit und minderwertigkeitskomplexgeschüttelter Größenwahn im Allgemeinen.
Ralph Giordano, Jahrgang 1923, schreibt auf, was unseren Eltern nicht aus der Nase zu ziehen ist. Dazu begibt er sich aber nicht auf das hohe Roß der Unfehlbarkeit, sondern gesteht gleich zu Anfang, daß auch er propagandistischer Verführung auf den Leim gegangen ist - nicht der von Göbbels, wohl aber der von Stalin, und es dauerte elf Jahre bis er die KPD wieder verließ: "aus denselben Gründen, aus denen ich mich ihr angschlossen hatte: um meinen Teil dazu beizutragen, die Erde für die Menschheit bewohnbarer zu machen ..." Von dieser Warte aus beschreibt er als Grundlage die GESCHICHTE DES VERLUSTES DER HUMANEN ORIENTIERUNG, die den Konservatismus im Wechselspiel von Täter und Opfer seit dem 19.Jhd vorstellt. Dieses Wechselspiel ermöglichte auch in der Nachkriegszeit DEN GROSSEN FRIEDEN MIT DEN TÄTERN. Der Anteil alter Nazis im ersten Bundestag bis hin zu höchsten richterlichen Ämtern im Nachkriegsdeutschland erklärt sich eben nicht nur aus der Kumpanei der Mächtigen, sondern wiederum aus dem Fehlen eines massenhaften Aufschreis gegen diese Mißstände. Man wollte endlich seine Ruhe haben, und wenn die 'da oben' so harmlos miteinander umgehen, dann bin ich 'da unten' ja noch viel weniger verantwortlich zu machen. Giordano aber holt einige schon vergessene Nachrichten aus dem Dunkel hervor und setzt sie in Beziehung zu einer wahrhaft einzigartigen Verflechtung.
Als eines der jüngsten Beispiele dient die Berechtigung der 'Schadensausgleichrente' für die Witwe Freislers: "Es könne ebenso wahrscheinlich sein, daß Freisler in seinem erlernten oder einem anderen Beruf weitergearbeitet hätte, zumal da eine Amnestie oder ein zeitlich begrenztes Berufverbot ebenso in Betracht zu ziehen sind." (Zitat des damaligen CSU-Sozialministers Fritz Pirkl)
Neben der unsäglichen Gesinnung die hinter solchen Sätzen steht, mutmaßt Giordano sehr plausibel, daß der Zynismus darin auch noch recht behalten würde, d.h. der Massenmörder in Richterrobe wäre, wenn er einen Luftangriff von 1945 und (evtl. durch Flucht) die Nürnberger-NS-Prozesse überlebt hätte, nicht nur von der lauen Gerichtsbarkeit ab 1953 verschont, sondern auch wieder zu Amt und Würden gekommen.
Für einige wird auch die Stellung der Wehrmacht des III.Reiches zu der 'Judenfrage' neu zu überdenken sein. Giordano kann sehr deutlich nachweisen, daß die Wehrmacht in hohem Maße Anteil an der versuchten Ausrottung einer ganzen Volks- und Glaubensgemeinschaft hatte.
Bei einem anderen Kapitel mag die Überschrift als Hinweis reichen: FJS UND DIE ZWANGSDEMOKRATEN/ÜBER DIE VERBLIEBENE SEHNSUCHT NACH DEM STARKEN MANN ...
Ob DER PERVERSE ANTIKOMMUNISMUS bei uns oder DER VERORDNETE ANTIFASCHISMUS in der DDR, von der angeblich großzügigen CHARTA DER DEUTSCHEN HEIMATVERTRIEBENEN bis hin zu den Beispielen des Versuches, einen Schlußstrich zu ziehen (s.u.a. den geplanten Bau eines deutschen historischen Museums in West-Berlin) trennt Giordano die engen Maschen praktizierter Verdrängung auf und legt sie frei.
Hervorzuheben ist auch das Kapitel GEGENRADIKALISMUS PLUS TERRORISMUS, deren Summe er als Hauptgefahr der Demokratie benennt:
"Die bundesdeutsche Variante des internationalen Terrorismus nun hat einen Gegenradikalismus beflügelt, der lange auf solch glänzenden Vorwand gelauert hat, seine Ziele erfolgreicher als bisher durchzusetzen: Mehr Staat, mehr Polizei, rigorosere Gesetze, Abbau der demokratischen Rechte und Freiheiten, ein Kaima geistiger Reglementierung, Diskriminierung von Intellektuellen - im ganzen Reaktionen, die haargenau den Erwartungen des Terrorismus entsprechen, nämlich die andere Hälfte zur Zerstörung des Rechtsstaates beizutragen.
Keine Mißverständnisse - der Gegenradikalismus ist nicht das Produkt, ist kein Geschöpf des Terrorismus, sondern die zeitgenössische Spielart einer konservativen Kraft, die aus der Tiefe der deutschen Reichsgeschichte bis in unsere Gegenwart hinein wirkt."
Dieses Sachbuch ist spannender als ein Gruselroman, bei dem sicherlich nicht die flüssige Schreibe Giordanos für das z.T. stockende Lesen verantwortlich ist. Offenbar sauber recherchiert, ergänzt durch eigene Erfahrungen, korrespondieren seine Ergebnisse u.a. mit Aussagen des Psychologen-Ehepaares Mitscherlich.
Jede/r vom Leben Lernende kann daran seinen/ihren Rücken stärken, um dem anderen Antlitz des Januskopfes zu mehr Gesicht zu verhelfen - wir sind immer noch zu wenig!
Quelle: home.arcor.de/karger/buecherna…iordano_ralph_schuld.html
Weitere Besprechungen zu Werken von Ralph Giordano siehe:
Ralph Giordano: Die zweite Schuld (1987)
Ralph Giordano: Ostpreussen ade (1994)
Wenn ihr es gelesen habt dann schreibt doch mal eure Meinung hier ins Forum
Die Vollkommenheit ist unerreichbar. Gewiß ist die Vollkommenheit unerreichbar. Sie hat nur den Sinn, deinen Weg wie ein Stern zu leiten. Sie ist Richtung und Streben auf etwas hin.
- Antoine de Saint-Exupéry, Die Stadt in der Wüste
- Antoine de Saint-Exupéry, Die Stadt in der Wüste
Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von sooma ()