Grundrechte-Report

  • Grundrechte-Report

    ?Wir sind weit ?ber Orwell hinaus?
    Von Hans-Detlev von Kirchbach

    Der K?lner Rechtsanwalt Gerhart Baum, 1932 geboren in Dresden, war von 1972 bis1978 f?r die FDP Parlamentarischer Staatssekret?r beim Bundesminister des Innern und von 1978 bis 1982 selbst Bundesinnenminister. 2004 und 2006 war er an erfolgreichen Verfassungsbeschwerden gegen den ?gro?en Lauschangriff? und gegen das ?Luftsicherheitsgesetz? beim Bundesverfassungsgericht beteiligt. Die Redaktion.

    Von Kirchbach: In diesem Jahr erscheint der Grundrechte-Report in seinem 10. Jahr. Was f?llt Ihnen dazu ein?

    Gerhart Baum: Warum sind die B?rger so gleichg?ltig?
    Foto: NRhZ-Archiv

    Gerhart Baum: Mir f?llt dazu ein: Die Erosion der Grundrechte schreitet rapide fort. Die Staatsorgane haben sich angew?hnt, die Grundrechte nicht mehr zu achten. Ich mache das fest an zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die ich selber mit bewirkt habe: die Entscheidung gegen die Wanze in der Wohnung, also gegen den "Gro?en Lauschangriff" 2004 und die Entscheidung gegen das "Luftsicherheitsgesetz" im Jahre 2006. Beide sind fundamentale Entscheidungen, die r?gen, da? das Parlament, die Regierung und auch der Bundesrat das fundamentale Prinzip der Verfassung - Schutz der Menschenw?rde - nicht beachtet haben.
    Die Entscheidung zur verdachtsunabh?ngigen Rasterfahndung, die vor kurzem ergangen ist, ist noch zu nennen.

    Bundesverfassungsgericht wird nicht respektiert

    Also: Die Staatsorgane haben sich angew?hnt, bei der Bek?mpfung des Terrorismus ?ber fundamentale Prinzipien der Verfassung hinwegzusehen. Noch schlimmer: Nach den Entscheidungen des Verfassungsgerichts hat ein Teil der Staatsorgane die Absicht bekundet, diese Entscheidungen nicht zu respektieren. Also, zun?chst haben sie die Entscheidungen kritisiert; der Innenminister Sch?uble hat beispielsweise zum Luftsicherheitsurteil gesagt, die Bundesrepublik Deutschland werde damit zum "Geisterfahrer" im Vergleich zu anderen europ?ischen Staaten. Also - das Bundesverfassungsgericht in den Augen des Verfassungsministers ein "Geisterfahrer". Und der Innenminister Beckstein aus Bayern hat zum Rasterfahndungsurteil gesagt, dies sei ein schwarzer Tag bei der Bek?mpfung des Terrorismus.

    Also, die Reaktion zeigt eine Verachtung gegen?ber dem Gericht; und es kommt noch schlimmer: Der Verteidigungsminister hat nichts Besseres vor, als nun zu versuchen, die Verbrechensbek?mpfung zum "Verteidigungsauftrag" zu machen, das hei?t also, das Kriegsrecht bei der Bek?mpfung von terroristischen Verbrechen einzuf?hren, also der Versuch einer glatten Umgehung dieses fundamentalen Urteils (zum Luftsicherheitsgesetz).

    Das hei?t also, wir sind in einer sehr kritischen Situation, was diesen Teil der Grundrechte angeht.-
    Ich w?rde mir w?nschen - ich sag' das schon seit Jahren - eine bundesweite Bewegung "Rettet die Grundrechte". Wir erleben und erfahren diesen Proze? im Grunde seit der Reaktion des Gesetzgebers auf den RAF-Terrorismus. Also wir sind in einer Phase der innenpolitischen Aufr?stung seit einigen Jahrzehnten.

    Worauf ist denn diese "Erosion" zur?ckzuf?hren - und wenn Sie sagen, das l?uft schon seit ein paar Jahrzehnten, f?llt da der Beginn dieser Phase vielleicht sogar noch in die Zeit, als Sie selber Innenminister gewesen sind?

    Die ?ffentlichkeit l?sst sich ?ber den Tisch ziehen

    Na gut, ich habe versucht, einen Teil der Terrorismusgesetze abzubauen, ich habe den "Radikalenerla?" 1979 aufgehoben; es gab da eine Gegenbewegung, wir haben dem Datenschutz wieder zu seinem Recht verholfen bei der Abw?gung zwischen polizeilichen Ermittlungsnotwendigkeiten und Datenschutz. Die Stimmung hat sich ge?ndert. Das hei?t also, diejenigen, die "zur Wahrung der Inneren Sicherheit" die Freiheitsrechte einschr?nken, k?nnen dies ohne weiteres tun, diejenigen, die die Freiheit verteidigen, m?ssen beweisen, warum das notwendig ist. Es ist auch eine merkw?rdige Rechtskonstruktion eines Grundrechts auf Innere Sicherheit in die Diskussion gekommen seit einigen Jahren; meine Verfassung kennt ein solches Grundrecht nicht. Innere Sicherheit ist eine M?glichkeit zur Bewahrung der Freiheit. Also die Freiheit ist das oberste Grundrecht. Und die Angst wird mit Gefahren begr?ndet, die zum Teil nur "gef?hlte" Gefahren sind, und auch mit Gefahren, die man eben nicht ausschlie?en kann. Auch das geh?rt dazu, da? man dem W?hler sagt: Es gibt Gefahren, die man gar nicht verhindern kann; wir k?nnen die Risiken mindern. Also hier wird einer im Vergleich zur Situation in den siebziger Jahren leider sehr gleichg?ltig gewordenen ?ffentlichkeit etwas vorgemacht und die l??t sich regelm??ig ?ber den Tisch ziehen.

    K?nnte es sein, da? auch die Zuspitzung der sozialen Konflikte, zum Beispiel Massenarbeitslosigkeit, dazu f?hrt, langfristig diese autorit?ren Trends zu verst?rken?

    Das will ich nicht ausschlie?en. In der Gesellschaft gibt es andere Priorit?ten; die Menschen sind von ganz anderen Sorgen geplagt, und die Gesellschaft ist davon gepr?gt. Die gesellschaftlichen Milieus driften auseinander; wachsende Armut, Unterprivilegierung, das hat sicher mit dazu beigetragen, da? man solchen Themen wie Datenschutz keine so gro?e Aufmerksamkeit schenkt. Aber das ist ein ganz gef?hrlicher Proze?. Beim Datenschutz ?brigens ist der Proze? nicht nur im Gange auf seiten der Staatsorgane, sondern auch auf seiten der "Privaten". Die Speicherung des Verbraucherverhaltens beispielsweise ist eine ganz gro?e Gefahr.

    ?Radikalenerla? f?r Putzfrauen in den WM-Stadien

    Das Schlimme ist, da? wir zu einem Volk der Verd?chtigen werden. Wir sind wirklich schon in einem ?berwachungsstaat. Die Fu?ballweltmeisterschaft hat das noch einmal deutlich gemacht, wo also Hilfspersonal der Pr?fung des Verfassungsschutzes unterzogen wird. Der Radikalenerla? ist also wieder da f?r Putzfrauen und Feuerwehrleute in den Stadien. Weil man die "Verd?chtigen" nicht kennt, bezieht man also den normalen B?rger ein. Im Grunde m?ssen wir in vielen Situationen nachweisen, da? wir nicht verd?chtig sind. Die Verdachtsabh?ngigkeit von Fahndung zerrinnt und verliert sich im Nebel. Jetzt wird auf Teufel komm raus gefahndet. Und die Rasterfahndung nach dem 11. September, die wir von Anfang an kritisiert haben, die auch nicht wirkungsvoll ist, keine Erfolge gebracht hat, bezieht eben gro?e Gruppen der Bev?lkerung aufgrund von vagen Merkmalen ein, und das hat das Verfassungsgericht jetzt gestoppt.

    Steckt dahinter nur ein Affekt von Angst in einer immer komplexer werdenden Welt oder vielleicht doch eine kalkulierte Konzeption, eine Staatskonzeption, die mit der, die Sie vertreten, vielleicht nicht mehr allzuviel zu tun hat?

    Schily-Gesetze zum Teil hochgef?hrlich

    Ja, es ist merkw?rdig. Einerseits wird daf?r pl?diert, da? der Einzelne mehr Verantwortung zu ?bernehmen habe bei der Altersversorgung, der Gesundheitsvorsorge beispielsweise, da? der Staat sich also zur?ckzieht, andererseits haben wir den bevormundenden, ?berwachenden Staat im Bereich der "Inneren Sicherheit", und die neue Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus wird einfach benutzt von den Konservativen, um immer neue Forderungen zu stellen. Wir haben ja eine Serie von Debatten in der Geschichte der Bundesrepublik, die immer neue Versch?rfungen der Sicherheitsgesetze gebracht haben. Ich denke an die gespenstische Debatte ?ber das "organisierte Verbrechen". Monatelang, jahrelang hat man ?ber das "Organisierte Verbrechen" geredet, keiner wu?te genau, was das ist. Das Verfassungsgericht hat vergeblich versucht, in einem der Verfahren, die wir gef?hrt haben, herausarbeiten zu lassen durch die Staatsorgane, was eigentlich "Organisiertes Verbrechen" ist. Dann gab es monatelang Debatten ?ber ein Vermummungsverbot. Also es brandeten immer neue Wellen der Erregung hoch, und die gr??te Erregung der letzten Zeit war eben der 11. September, und zur Beruhigung wurden diese Schily-Gesetze eingebracht. Zum Teil sind sie durchaus berechtigt, aber zum Teil sind sie hochgef?hrliche Einbr?che in pers?nliche Freiheitsrechte - und sind eben Symbolhandlungen: Der Bev?lkerung soll etwas vorgemacht werden.

    Sie haben ja zusammen mit Burkhart Hirsch und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger erfolgreich mehrfach vor dem Verfassungsgericht geklagt gegen Erosion und Aush?hlung von Grundrechten. Bei Ihrem n?chsten Projekt geht es um ein Thema mit dem etwas komplizierten Namen "Vorratsdatenspeicherung bei der Telekommunikation". Was ist denn das eigentlich?

    Totalprotokollierung der Telekommunikation

    Es ist in Europa beschlossen worden, da? die Telephonverbindungen, die man speichern kann, Festnetz wie Handy, festgehalten und gespeichert werden, und zwar auf eine l?ngere Zeit, und da? dann die Sicherheitsbeh?rden bei Bedarf feststellen k?nnen, wer mit wem wann telephoniert hat, und das eben millionenfach, in einem Verfahren, dem auch das Europ?ische Parlament zugestimmt hat, das mir wirklich sehr merkw?rdig erscheint. Eine kritische Diskussion hat hier wirklich zuwenig stattgefunden und der Bundestag steht vor der Frage, ob er dem zustimmt. Die Bundesregierung hat zugestimmt, die europ?ischen Parlamentarier haben zugestimmt, also ich wehre mich dagegen und sehe darin einen massiven Eingriff in die Grundrechte, die ja nicht nur eine nationale, deutsche, Dimension haben, sondern auch eine europ?ische Dimension. Es gibt einen europ?ischen Grundrechtskatalog, der sich herausgearbeitet hat. Und weil es ein europ?ischer Rechtsakt ist, bereiten wir mit anderen zusammen eine Klage beim Europ?ischen Gerichtshof vor. Das Verfassungsgericht in Deutschland wird erst zust?ndig, wenn es ein deutsches Gesetz gibt. Jetzt geht es erst um die Zustimmung zur (europ?ischen) Richtlinie und noch nicht um ein deutsches Gesetz.

    Worin besteht denn die konkrete Grundrechtsgefahr bei dieser Vorratsdatenspeicherung?

    Die Gefahr besteht darin, da? der Schutz des Pers?nlichkeitsrechts, das das Recht jedes Einzelnen umfa?t, zu kommunizieren, nicht privat bleibt, sondern auch bei Unverd?chtigen, bei allen, die telephonieren, festgehalten wird. Und auch, wenn Vorkehrungen getroffen sind, da? die Daten nicht hemmungslos benutzt werden k?nnen, ist der Umfang der Speicherung und der Anla?, die Dauer der Aufbewahrung, anfechtbar.

    Sind wir denn in den Augen derjenigen, die solche Konzepte konstruieren, sozusagen allesamt potentielle Verbrecher?

    Auf dem Weg in den ?berwachungsstaat

    Ja, so sieht es aus, nicht wahr. Also hier wird eine Totalprotokollierung der Telekommunikation vorgenommen, und das kann man nur tun, wenn man sagt, wir gehen zun?chst einmal davon aus, da? ihr alle in Frage kommt. Wir sind wirklich auf dem Weg in einen ?berwachungsstaat. Ich habe lange gez?gert, eine solche Aussage zu machen, aber wir werden unser blaues Wunder erleben. Wir sind weit ?ber Orwell hinaus. Der ja noch die Schreckensvision hatte, da? durch Kameras auf ?ffentlichen Pl?tzen unsere Bewegungen kontrolliert werden - das geschieht ja auch schon.

    Ich sage voraus, da? alles, was irgendwie technisch m?glich ist, eines Tages unter diesem Druck, Sicherheit herzustellen, die gar nicht herzustellen ist, gemacht werden wird. Also ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wenn ich jetzt unter einer Mautbr?cke auf der Autobahn herfahre, stelle ich mir vor, da? ich k?nftig dort registriert werde.

    Es werden die Fahrten registriert, auf Vorrat, sag ich Ihnen voraus; das wird geschehen, weil man sagt, man kann sie eines Tages nutzen; bei einem Bank?berfall in K?ln kann man dann darauf zur?ckgreifen, wer ist diese Strecke gefahren, und dann hat man aus tausenden Autos m?glicherweise einen. Das hei?t also, die technische Innovation wird benutzt, die Effizienz der Inneren Sicherheit voranzutreiben. Das sind zum Teil ganz untaugliche Mittel, und es sind vor allen Dingen Mittel, und da greife ich auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in unseren Sachen zur?ck - Luftsicherheitsgesetz, Wanze in der Wohnung -, die ihre Grenze nicht dort finden, wo das Verfassungsgericht und die Verfassung die Grenze sehen, n?mlich beim Schutz der Menschenw?rde. Nicht alles, was zum Erfolg der Strafverfolgung beitragen kann, darf gemacht werden. Nicht jedes Gespr?ch in der Wohnung darf abgeh?rt werden, auch, wenn man damit die Chance h?tte, einen T?ter zu ?berf?hren. Das hei?t also, es gibt Grenzen. Wir haben eine Dominanz des Sicherheitsdenkens bei unseren Politikern. ?brigens haben die Gr?nen beim Luftsicherheitsgesetz mitgemacht, nicht, es ist keineswegs so, da? das nur die Konservativen machen, von dem SPD-Mitglied Schily mal ganz zu schweigen.

    Verfassungswidrige Eingriffe in die Pressefreiheit

    Die FDP hat sich sehr zur?ckgehalten, hat in den letzten Jahren nicht mehr zugestimmt. Ich hoffe, da? die Parteien in der Opposition jetzt Tritt fassen und endlich die Gro?e Koalition auf diesem Gebiet kontrollieren. Was sie zur Zeit mit dem BND machen, ist k?mmerlich. Die politische Verantwortlichkeit f?r die Eingriffe, die verfassungswidrigen Eingriffe in die Pressefreiheit, mu? festgestellt werden. Das darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Also, ich hoffe, da? durch st?ndiges Bohren doch ein st?rkeres ?ffentliches Bewu?tsein f?r diese Bedrohungen der Freiheit entsteht. Es ist nicht da.

    Stichwort Menschenw?rde. M?chten Sie sich vielleicht auch zur beobachtbaren Entgrenzung des Foltertabus ?u?ern?

    Wir haben ja eine Serie von merkw?rdigen, gef?hrlichen Diskussionen. Wir haben Ma?nahmen gehabt bei der Einschr?nkung des Datenschutzes, wir haben eine Vielzahl von Beschr?nkungen der Pressefreiheit gehabt in den letzten Jahren, nicht nur in dem BND-Fall; und wir haben eben eine Folterdiskussion gehabt, die erschreckend ist.

    Weil n?mlich auch von namhaften Verfassungsrechtlern, einigen wenigen, die Meinung vertreten wurde, unter gewissen Umst?nden sei Folter gerechtfertigt. Da gibt es diesen Begriff der sogenannten "Rettungsfolter". Wenn man also jemanden retten kann, m??te es doch m?glich sein, Folter anzuwenden. Wenn man diese T?r zur Folter nur ein kleines bi?chen aufmacht, ist man bereits in Teufels K?che. Das darf auf keinen Fall geschehen. Ich will jetzt nicht die ganzen Gegenargumente vortragen, aber ein Staat, der foltert, ist in meinen Augen unvorstellbar. Er mu? in Kauf nehmen, da? er bestimmte Dinge nicht zur Kenntnis bekommt, die er m?glicherweise, aber auch nur m?glicherweise, erf?hrt, wenn er foltert. Wobei auch ganz praktische Fragen eine Rolle spielen: Wer foltert denn? Welcher Arzt beobachtet das? Wie weit darf Folter gehen? Darf man einem zu Folternden das Bein brechen, das w?chst ja wieder zusammen? Gibt es dann "Folter-Kammern" bei den Landgerichten, die anordnen, wie Folter stattzufinden hat? Man mu? sich die Abstrusit?t der Situation vor Augen f?hren! Aber in der Bev?lkerung gab es durchaus eine Stimmung, die angesichts der Kindesentf?hrung in Frankfurt gesagt hat: Warum nicht? Und dem m?ssen wir entschieden entgegenwirken.

    Sie haben vor ein paar Monaten im K?lner Schauspielhaus bei einer Veranstaltung zur Situation der "Papierlosen", also illegaler MigrantInnen, recht leidenschaftlich dazu aufgerufen: "Es wird Zeit, da? wir endlich f?r unsere eigenen Grundrechte auf die Stra?e gehen!" Als ehemaliger Innenminister: Das haben Sie doch wohl ernst gemeint?

    F?r die Grundrechte auf die Stra?e gehen

    Das meine ich ernst, das habe ich wiederholt in den letzten Jahren gesagt. Und es ist ja geradezu absurd, wenn wir von einb?rgerungswilligen Menschen einerseits zu Recht Verfassungstreue verlangen und auf der anderen Seite geradezu systematische Verfassungsmi?achtung auf Seiten der Staatsorgane sehen. Das pa?t doch nicht zusammen. Was wir als - ich nenne jetzt mal das Wort, das mir nicht gef?llt, und das ich auch nicht definieren kann - wenn wir von "Leitkultur" reden, dann sind das doch in erster Linie die Grunds?tze unserer Verfassung. Auch das Element des Sozialstaates, das in der Verfassung drinsteckt, das Element des s?kularen Staates, in dem keine Kirche staatliche Entscheidungen dominiert. Also, alles das, was in den Grundrechten drinsteckt, dieses Erbe der Aufkl?rung. Diese Entwicklung, die die Bundesrepublik in den letzten sechzig Jahren genommen hat, mu? doch bewahrt werden und darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden, wie das in den letzten Jahren geschehen ist, immer wieder geschehen ist bei der Bek?mpfung des Verbrechens.

    Und ich finde auch bedauerlich, da? nur ein Teil der ?ffentlichen Meinung diese Themen f?r wichtig h?lt. Es gibt eine unendliche Schwatzhaftigkeit ?ber die Befindlichkeit unserer Republik, ob wir uns nun wohl f?hlen sollen, ob "wir Deutschland sind", und alle m?glichen Anzeigenserien und manchmal wirklich einf?ltigen Aktionen werden gemacht, ob wir "stolz sein" d?rfen auf unser Land und unter welchen Voraussetzungen. Ich w?rde mir w?nschen, da? wirklich einmal eine gro?e Kampagne stattfindet "Rettet die Grundrechte", wo also auch Leute, die geh?rt werden - z.B. der PEN-Kongre?, habe ich nichts davon geh?rt, nun gut, es war ein internationaler PEN-Kongre?. Aber der PEN-Kongre? h?tte sich beispielsweise damit befassen k?nnen, da? der Menschenrechtsschutz durch die Bek?mpfung des Terrorismus gro?en Schaden nimmt, weil die Bek?mpfung des Terrorismus in vielen F?llen das Menschenrechtsthema wegdr?ckt.

    Krise durch die Terrorismus-Bek?mpfung

    Es reicht schon, wenn ein Staat den El-Qaida-Terrorismus bek?mpft, und schon l??t man ihn in Ruhe. Beispiel Lybien etwa oder Beispiel Saudi-Arabien. Das hei?t also, der Menschenrechtsschutz, das beklagen auch die Menschenrechts-Organisationen, ist wirklich international in einer Krise durch die Terrorismus-Bek?mpfung. Das h?tte intoniert werden m?ssen. So wichtig es ist, die Gefahren zu benennen, die von Amerika ausgehen in der Auseinandersetzung mit dem Iran, aber unsere Verantwortung f?r den weltweiten Menschenrechtsschutz, die mu? hier eine Rolle spielen. Ich bin zum Beispiel seit Jahren t?tig, um diese Massenverbrechen in Dhafour zum Gegenstand der Kritik zu machen, und Vorschl?ge zur Verhinderung, also diese gr??te humanit?re Katastrophe, die zur Zeit existiert, im Sudan existiert, in der Provinz Dhafour, fordert unsere politische und diplomatische Aktion und auch, wenn n?tig, den Einsatz unserer Bundeswehr, was hier ja nur sehr z?gernd gesehen wird, da? man zum Menschenrechtsschutz nicht nur Resolutionen verabschiedet und Hilfslieferungen in Fl?chtlingslager schickt, sondern auch Frieden herstellt und Frieden zu bewahren hat in Situationen, wo Regierungen die eigene Bev?lkerung massakrieren und nicht mehr sch?tzen.

    Nun haben wir ja jetzt insgesamt ein sehr pessimistisches Bild gezeigt; sehen Sie aber auch Ans?tze zur Hoffnung, zu einer etwas positiveren Prognose?

    Warum sind die B?rger so gleichg?ltig?

    Also, es gibt eine stark interessierte Minderheit in unserem Lande; der Grundrechtsreport wird ja von so einer Bewegung getragen, auch die Menschenrechtsorganisationen sind hier zu nennen. Und die Tatsache, da? beim Luftsicherheitsgesetz sechs B?rger in der Lage waren, ein ganzes Gesetz zu kippen. Das Urteil des Gerichts lautet: "1. Das Luftsicherheitsgesetz mit seinen Paragraphen soundso ist nichtig, geh?rt also in den Papierkorb. 2.: Den Beschwerdef?hrern werden die notwendigen Auslagen erstattet." Das war das Urteil. Und das haben drei Juristen und drei Flugkapit?ne erstritten. Die M?glichkeit, da? sechs B?rger die Mehrheit des Bundestages und den Bundesrat in die Schranken weisen k?nnen, das ist ein ganz positives Element zum Schutz der Grundrechte. Das Verfassungsgericht ist hier unentbehrlich. Und es findet hier ein Proze? statt, den ich bei der Reaktion auf das Luftsicherheitsgesetz gesp?rt habe, vom Taxifahrer bis zum Universit?tsprofessor. Nun war das auch eine Materie, die leicht vermittelbar war, also es gab sehr viel Zustimmung, und die Menschen haben gesagt: Es war ganz wichtig, da? Sie da was unternommen haben. Und wir werden das fortsetzen.

    Sie sagten, das Bundesverfassungsgericht ist unverzichtbar, und Sie werden Ihre Aktivit?ten fortsetzen. Aber w?re nicht auch mehr Engagement der Leute, der B?rger, wie es so sch?n hei?t, selber unverzichtbar?

    Ja, ich kann die Frage nicht endg?ltig beantworten, warum die B?rger so gleichg?ltig sind. Sie sind ein bi?chen aufgewacht, als sie merkten, da? der Staat oder die Finanz?mter sehr viel leichter an ihre Konten kommen. Das hat sie zeitweise beunruhigt, aber die Beunruhigung ist schon wieder verraucht. Ich meine, da? eine freiheitliche Gesellschaft, auch wenn sie im Gro?en und Ganzen stabil ist, immer wieder gegen Erosion gesch?tzt werden mu?. Und dieser Erosionsproze?, den wir jetzt erleben bei einem Teil der Grundrechte, ist so noch nie da gewesen. Das mu? den Menschen immer wieder gesagt werden, und dann hoffe ich, da? das Thema auch bei Wahlen eine gr??ere Rolle spielt. Das ist eine M?glichkeit der B?rger, auf politische Entscheidungen Einflu? zu nehmen, diejenigen zu w?hlen, die diese Gef?hrdung ernst nehmen.

    Wer w?re das jetzt?

    Ich will hier keine Wahlempfehlung geben, wir stehen weit vor einer Wahl. Aber bisher hat es jedenfalls keine Rolle gespielt, das Thema wurde ruhig gestellt; die SPD hat sich sehr bem?ht, keine Angriffsfl?chen zu geben. Schily ist weit ?ber das Ziel hinausgeschossen; ich f?rchte, da? das in der jetzigen Gro?en Koalition so weitergeht. Die Art, wie die BND-Aff?re, was die politische Verantwortlichkeit angeht, vertuscht werden soll, l??t Schlimmes bef?rchten. Also - hoffen wir auf eine muntere Opposition zun?chst mal.

    Das Interview mit Gerhart Baum ist hier als mp3 (ca. 18 MB )nachzuh?ren.


    Online-Flyer Nr. 48 vom 14.06.2006

    http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=1660
  • nur eine Minute

    Manchmal verraten Details sehr viel ?ber das gro?e Ganze: Beim Gipfeltreffen der Europ?ischen Union mit US-Pr?sident George W. Bush lie? der ?sterreichische Bundeskanzler Wolfgang Sch?ssel als EU-Ratsvorsitzender vor der gemeinsamen Pressekonferenz den amerikanischen Gast knapp eine Minute lang warten. Mit so viel Selbstbewusstsein hatte der m?chtigste Mann der Welt wohl nicht gerechnet. Beobachter berichten, diese knappe Minute lang habe Bush fast hilflos um sich gesp?ht.

    Die Beziehungen zwischen den USA und Europa, die nach dem v?lkerrechtswidrigen und letztlich gescheiterten Irak-Abenteuer der Amerikaner stark gest?rt waren, haben sich deutlich gebessert. Das ist das wichtigste Ergebnis von Wien. Es sind Beziehungen zweier ungleicher Partner, die gleichwohl aufeinander angewiesen sind. Und das hat jetzt offenbar ? nach einem langen Prozess ? auch die US-Regierung eingesehen, die im Schlusspapier Hinweise beispielsweise auf den Klimawandel oder die Menschenrechte mit unterzeichnet hat. Und Bush hat bekannt, dass er das (ebenfalls v?lkerrechtswidrige) Gefangenenlager Guant?namo am liebsten schlie?en w?rde. Ein deutliches Signal ? immerhin.

    Mehr nat?rlich nicht, denn Bushs Aussage bleibt ein Konjunktiv, Guant?namo wird vorerst nicht geschlossen. Aber das Eingest?ndnis des US-Pr?sidenten zeigt doch, dass man in Washington (zwar eher aus der Not heraus denn aus eigener ?berzeugung) zu begreifen scheint, dass im Kampf gegen den Terror eben nicht jedes Mittel recht ist. Guant?namo ist in den Augen der Welt l?ngst zum Fanal daf?r geworden, dass die USA ihre eigenen Werte, die sie im Kampf gegen den Terror zu verteidigen vorgeben, mit F??en treten ? frei nach dem Motto: ?Er war einsam, aber schneller, und der Colt war sein Gesetz.? Die politische Einsamkeit aber in einer immer kritischer werdenden Welt?ffentlichkeit h?lt selbst die Supermacht Amerika nicht mehr aus (zumal ihr wertfreier Kampf gegen den Terror eben diesen Terror weiter bef?rdert).

    Die Europ?er, die sich im Innern von Krise zu Krise bewegen, die als z?gernd, skeptisch, mitunter handlungsunf?hig bel?chelt werden, nehmen auch f?r die USA wieder st?rker die Rolle eines notwendigen Korrektivs ein. Denn die vermeintliche Schw?che Europas ist seine eigentliche St?rke: die feste Verankerung in Grundwerten. Menschenrechte, die Ablehnung des Rechts des St?rkeren, ?kologie und Nachhaltigkeit, soziale B?ndigung der kapitalistischen Wirtschaft, Rechtsstaatlichkeit, Ausgleich: Das europ?ische Grundger?st steht fest, und es gewinnt auch au?erhalb des ?alten? Kontinents an neuer Attraktivit?t. Europa zeigt bei aller Krisenhaftigkeit, dass es im Gegensatz zu den USA an seinen Werten festh?lt, und dass sich diese Werte nicht exportieren lassen, indem man von ihnen abr?ckt. Dieser Export ist ein l?ngerer und schwierigerer Weg als der des patronenbeg?rteten Cowboys. Aber er lohnt sich. Was f?r eine sch?ne Vorstellung, George W. Bush habe in seiner einsamen Minute in der Wiener Hofburg gerade dar?ber nachgedacht.

    Europas ?Schw?che?

    ist seine

    St?rke

    Q: http://www.frankenpost.de/nachrichten/standpunkte/resyart.phtm?id=981568