Gegen mittag hatte das Schneetreiben ein Ausmaß erreicht, mit dem niemand gerechnet hatte. Doch es war der vierundzwanzigste Dezember und nur wenige Menschen fühlten sich verpflichtet, beruflich unterwegs zu sein, so dass die meisten die Wetterkapriolen ziemlich gelassen hinnahmen.
„Weiße Weihnachten!“ riefen indessen die Kinder jubelnd, während sogar ihre Eltern verträumte Augen bekamen, an die Märchenwelt ihrer jungen Jahre zurückdachten und seufzend feststellten:
„So was gab’s lange nicht mehr! Da muss es ja schön werden, es geht gar nicht anders!“
Doch selbstverständlich täuschten sie sich und die Feiertage verliefen wie immer, denn Wetter und Fest sind zwei Seiten, die nur der Wetterfeste wirklich harmonisch verbinden kann.
Ein solcher war wohl Stefan Hofgänger, denn er fühlte sich glücklich wie nie. Er schippte Schnee und streute auf den Gehwegen einiger Nebenstraßen unweit seiner Wohnung, was er zum einen aus innerem Antrieb tat und zum anderen im Auftrag einer mobilen Hausmeisterfirma. Die Voraussetzungen dazu waren denkbar günstig, denn er fühlte sich trotz seiner über fünfzig Jahre kerngesund und war für niemanden mehr verantwortlich außer sich selbst. Die Trennung von seiner Frau lag ein knappes Jahr zurück. Die beiden Söhne, die im Ausland lebten, verzichteten leicht auf einen Besuch ihres Vaters, und die übrigen Verwandten hatten sich von ihm abgewandt, weil sie ausnahmslos der Meinung waren, er habe seinen Mitmenschen mit gewissen eigenwilligen Lebensvorstellungen übel mitgespielt.
So glaubte er beispielsweise, der Mensch solle essen, was ihm zusagte und nicht unbedingt das, was auf den Tisch kam; und er hatte schon mehrmals erfolglos versucht, diesen seinen Starrsinn ausgerechnet zu Weihnachten durchzusetzen, indem er den traditionellen Gänsebraten vehement ablehnte und sich stattdessen eine Orange schälte. Überdies hatte er sich zunehmend undankbar benommen und beispielsweise das Geschenk der Schwiegermutter, den fünfzehnten schräg gestreiften Schlips mit gerunzelter Stirn und der Bemerkung „Bleib mir damit vom Hals!“ über den Tisch zurückgeschoben. Und wenn die ganze Gesellschaft die Christvesper besucht hatte, war es niemandem verborgen geblieben, wie er demonstrativ seine Lippen zusammenpresste, um keines der Lieder mitsingen zu müssen, deren Wärme- und Geborgenheitsgesäusel er verachtete. Dass er sich auch noch geizig gezeigt und seinerseits kaum noch jemanden aus seinem Umfeld beschenkt hatte, war bestimmt der Gipfel gewesen. Zwar hatte er gedacht, er könne alles erklären, hatte immer wieder davon gesprochen, dass er nicht „mit dem Schinken nach der Wurst schmeißen“ wolle, doch diese Taktik war alles andere als hilfreich gewesen. Wenn man die Leute unverschämt brüskierte, blieb das nicht ohne Folgen, und das hatte auch Stefan erfahren müssen.
Allerdings waren jene Jahre längst vorüber, und wenn er an sie zurückdachte, lachte er lautlos in sich hinein. Träge ist der Mensch, gefräßig und verliebt in das Brett, das er vor dem Kopf trägt. Und dieses harte Holz gibt er nicht freiwillig ab, aber wenn Gott oder das Schicksal es ihm endlich zertrümmern, bildet er sich allemal noch ein, ihn habe das Unglück getroffen.
Weil Stefan all das wusste, schaufelte er nun Schnee, endlos, stundenlang und von der geheimnisvoll strahlenden Dunkelheit der früh hereinbrechenden Winternacht umgeben. Aus dichten Wolken flockte es unaufhörlich hinunter, und ein kräftiger, böiger Wind schuf kurvige Wehen vor den Toreinfahrten.
Hin und wieder tastete sich ein Auto an ihm vorüber, langsam und still, denn auf den Straßen bildete sich nun eine zunehmend tiefere Schneedecke. Im ersten Augenblick nahm es der Arbeitende kaum wahr, dass ein breiter MERCEDES neben ihm anhielt. Als er endlich seinen Kopf wandte, sah er, wie die Scheibe der Beifahrertür sich geöffnet hatte und ihn ein aufgedunsenes Gesicht angrinste, das beinahe zu einem Drittel mit einer Weihnachtsmannmütze bedeckt war.
„Frohe Weihnachten, Alter!“ rief ihm der Unbekannte zu. „Musst ganz schön schuften heute, hää?! Du armes Schwein!“
„Wie man’s nimmt“, erwiderte Stefan freundlich. Doch als er seinerseits „Frohe Weihnachten!“ wünschen wollte, hatte sich das Autofenster bereits wieder geschlossen.
Mit neu aufkeimender Freude arbeitete er weiter. Nur gelegentlich blickte er zu den erleuchteten Hausfenstern hinauf, hinter denen das sich immer und ewig wiederholende Fest gefeiert wurde. Saßen sie nicht dort, in diesen Räumen, die wirklich ,armen Schweine‘?
Es mochte wohl wenige von ihnen geben, die an diesem Abend fröhlich waren, Kinder einmal ausgenommen. Die Menschen saßen um einen erleuchteten Baum und taten als ob. Wärme und Sicherheit brauchten sie und die Illusion, dass sie für einige Stunden nicht einsam wären und die Angst in ihnen zur Ruhe kommen könnte, allein durch den Zauber dieser tausendfach beschworenen Nacht.
Er kannte all diese Gefühle, hatte sie oft und oft wiederholt, wäh- rend seine Kinder heranwuchsen. Er brauchte sie nicht länger.
Als er das Krankenhaus erreicht hatte, hinter dem sein Einsatzrevier endete, legte er eine Pause ein. Eine der Schwestern kam heraus und sprach ihn an, lud ihn zu einem Glühwein ein, den sie im Aufnahmeraum gemeinsam mit ihren Kolleginnen genießen wollte. Sie unterhielten sich ein wenig, und er fand Spaß daran, die neckenden Blicke einer schlanken Vollbusigen zu erwidern, deren Alter er dem seinen ähnlich schätzte.
Da das Schneetreiben draußen aber keine Unterbrechung einlegte und inzwischen die ersten misslungenen Selbstmorde eingeliefert wurden, hielt er sich nicht übermäßig lange auf.
Den Schwestern gegenüber brauchte er nicht viele Worte machen. Die meisten von ihnen verstanden ihn, wussten, dass seine Weihnacht fröhlich war. Deshalb genügte es, wenn er ihnen beim Hinausgehen heiter zunickte.
Den breiten Besen in der Hand, sog Stefan die Winterluft tief in seine Lungen. Es war der erste Heiligabend in seinem Leben, der ihn wahrlich reich beschenkte. Mit dem freudigen Pulsieren des eigenen Blutes während einer solchen Arbeit, mit der Geborgenheit der hellen Nacht, mit der zärtlichen Stille des Schnees und sogar dem ehrlichen Lächeln einer wissenden Frau. Und darüberhinaus einer unglaublichen Freiheit.
(A. H. Buchwald, geschr. Dezember 2009)
(Da diese Geschichte nicht zur Veröffentlichung vorgesehen ist, stelle ich sie mal als kleine Weihnachtsgabe an Euch alle hier rein. Vielleicht gefällt sie ja diesem oder jenem, dieser oder jener...)
Frohe Festtage und
ein sanftes Hinübergleiten ins Neue Jahr wünscht
nanabozho
Ich wünsche mir Chancen, nicht Sicherheiten.
Albert Schweitzer
Albert Schweitzer