Feinde im Dunkel

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    • Feinde im Dunkel

      Feinde im Dunkel
      Vielleicht brauche ich nicht zu erklären, dass es einerlei ist, gegen wen oder was einer kämpft. Wahrscheinlich ist es ebenso gleichgültig, mit welchen Mitteln er das tut. Selbst über das Wofür lässt sich streiten. Aber es ist furchtbar, wenn du irgendwann entdeckst, dass alles, was du je getan hast, in die Hose ging, weil du in Wirklichkeit dich selbst auf ’s Korn genommen hast.
      Als es bei mir dazu kam, fürchtete ich beinahe, den Sinn meines Lebens verloren zu haben. Aber ich erzähle diese merkwürdige Geschichte lieber von vorn.
      Ich war siebzehn oder achtzehn, als ich zu den Autonomen kam. Das Abitur hatte ich recht gut geschafft und Bafög bekam ich auch, damit ich studieren konnte. Meine Eltern wären nicht in der Lage gewesen, mich ihrerseits stärker zu unterstützen, denn mein Vater hatte seine Arbeit verloren, danach keine neue Anstellung mehr gefunden und hing am Tropf des Staates. Und was meine Mutter betrifft, so war sie über Jahre von einer Gelegenheitsbeschäftigung zu nächsten gewechselt und verdiente zuletzt ein kleines Zubrot mit alternativen Massagepraktiken und einer Art Heilkräuterberatung. Selbstverständlich betrieb sie alles, was sie tat, inoffiziell und sozusagen „schwarz“, damit man meinem Vater nicht die Grundsicherung kürzte. Ich glaube, sie wollte tatsächlich Heilpraktikerin werden, hat aber niemals einen handfesten Kurs bezahlen können. Nur meiner Schwester ging es einigermaßen gut, denn sie arbeitete als Altenpflegerin in einer größeren Einrichtung und kam mit dem, was
      sie dabei verdiente, über die Runden. Allerdings gestand sie mir vor kurzem, dass sie niemals eine Familie gründen wolle, denn sie fürchtete, in hoffnungslose Armut zu stürzen, sobald sie für Kinder sorgen müsste.
      Nicht nur uns allein ging es so. Wohin ich sah, hatte sich Frust breitgemacht. Tausende Menschen, die gesund und kräftig waren und sich wahnsinnig gefreut hätten, eine Arbeit zu verrichten, verharrten sozusagen auf dem Abstellgleis und mussten die Almosen annehmen, die der Staat ihnen bot. Oftmals hatten sie bereits die Fünfzig überschritten, fast immer die Vierzig und fanden sich nicht mehr so leicht bereit, eine Stelle im Ausland als Touristenanimateur anzunehmen, dafür fließend Spanisch und Portugiesisch zu lernen, von morgens bis abends Witze zu reißen und die akrobatischsten Tanzfiguren auf ’s Parkett zu legen. Zur Neukundenerschließung für Abzockefirmen wollten sie sich erst recht nicht hergeben. Also blieb ihnen nur, sich vom Fernsehen berieseln zu lassen und zuzuschauen, wie es Menschen ging, denen die Teilnahme am Leben nicht verwehrt war. Ich habe mich immer gewundert, warum ein Staat bereit ist, die Rundfunkgebühren für seine Ausgestoßenen zu übernehmen, weit weniger aber, ihnen zu helfen, wenn sie von sich aus etwas bewegen wollen.
      Doch es ist besser, allein von mir sprechen. Für meine Generation sieht es erst recht nicht rosig aus, in ganz Europa nicht. Jeder weiß das und wir brauchen nicht zu diskutieren. Beispielsweise interessiert es keinen, dass ich meinen Diplomingenieur gemacht habe. Stattdessen wollen sie, dass ich möglichst jahrelang ein „Praktikum“ nach dem anderen durchziehe, also meine Zeit für Firmen opfere, die mich ohnehin nicht bezahlen.
      Wem kann ich schon anvertrauen, dass ich ein Erfinder bin und in meiner Schublade zu Hause der Plan von einem Motor liegt, der zum größten Teil von Windenergie gespeist wird? Sogar die Leute, die Autos herstellen, lachen mich aus. Sie tun so,
      als glaubten sie mir nicht, als hätte ich die Sache nicht gut durchgerechnet und so weiter. In Wirklichkeit aber haben sie Angst vor allem Neuen, das ihre Kreise stören würde. Denn dafür muss Altes fallen und wer nur über ein Mindestmaß an Macht verfügt, wird sich auf Gedeih und Verderb dagegen wehren. Die grauen Herren in den Chefetagen und ihre dienstbaren Geister in den Behörden wären vermutlich mehr als beruhigt, wenn ich in irgendeiner Firma meine Zeit absitze und stundenlang Teile zusammenschraube, deren Funktion mir gleichgültig ist. Solange ich sie nicht mit meinen Ideen behellige, ist alles in Ordnung.
      Das meiste davon wusste ich bereits um die Zeit, als ich mein Abitur machte. Deshalb gab ich mich auch keinen fruchtlosen Träumen hin. Und mir war klar, dass es in dieser sogenannten Demokratie keine Zukunft für mich gab. Für die meisten, die innerhalb ihrer Grenzen wohnten, gab es keine, doch wem war das schon bewusst? Ich aber sah die Dinge ziemlich klar und ich war beileibe nicht der Einzige.
      Die Gesellschaft musste sich grundlegend wandeln, damit so etwas wie eine Zukunft überhaupt wieder möglich wurde. Und da die Strukturen ziemlich festgefügt waren und auf längere Sicht keinerlei Veränderung versprachen, wollten wir sie ein wenig auflockern. Wir, die Autonomen.
      Es gab einige von uns, die griffen auf die alten Kamellen zurück: Marx und Lenin und Mao. Jene vielfach umstrittenen und dennoch hochgelobten Herren waren schließlich die Klassiker der „proletarischen Revolution“. Mir kamen solche Sachen jedoch beizeiten kindisch vor, denn „Proletarier“ existierten schon lange nicht mehr. Leider.
      Jeder von uns wusste darüber recht gut Bescheid, viele waren eifrige Leser. Aber wir sahen und hörten, was um uns herum vorging und wir machten uns keine Illusionen: Das Geld, die Profit- und Gewinngier beherrschte die Leute. Oder, wie es ein paar Jahrzehnte früher hieß: das Kapital. Es gab keine Solidarität, es gab keine Zuwendung, kein Verständnis, von Liebe ganz zu schweigen! Es gab bloß immer dieses Habenwollen. Und die Stärkeren, die die Schwächeren ausraubten!
      Vom Wissen darum war ich angewidert, jeder Gedanke daran versetzte mich in eine unbeschreibliche Wut! Denn in eben diesem Zustand lag auch der Grund, weshalb ich und meine Generation so chancen- und hoffnungslos dahinvegetierten.
      Deshalb war ich bereit, gegen dieses Staatssystem zu kämpfen, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.
      Wir besetzten Häuser und bauten Containerbarrikaden. Zu jedem noch so geringen Anlass demonstrierten wir und sobald die Polizei auftauchte, warfen wir Pflastersteine oder was wir eben zwischen die Finger bekamen. Einige von uns, später auch ich selbst, konnten Molotow-Cocktails herstellen oder Minibomben basteln, deren Wirkung jenen in nichts nachstand. Müllbehälter abzufackeln war eine ziemlich gewöhnliche Aktion, aber tiefe Genugtuung bereitete es uns, wenn wir schwerkalibrige Autos brennen sahen, MERCEDES und BMW vorzugsweise, die Wagen der Reichen. Damit vermochten wir uns zumindest teilweise an denen zu rächen, die persönlich zu greifen uns nicht vergönnt war. Jeder, der es sah, würde verstehen, dass wir den Kapitalismus zerstören wollten.
      Die Polizei erwies sich als passabler Feind. Sie stand für das Staatssystem, das uns zur Ohnmacht verdammte. Sie verteidigte es und musste ihrerseits aus diesem Grunde uns bekämpfen. Und so ging es zuweilen hart auf hart und wir sahen uns oft sogar im Vorteil, weil die Beamten Befehlen gehorchten, während wir blind und erbarmungslos zuschlugen und uns nicht um irgendwelche Dienstvorschriften zu kümmern brauchten. So geschah es hin und wieder, dass einer der Uniformierten dabei drauf ging, während ziemlich viele von ihnen eine gewisse Krankenhausreife erreichten.
      Die meisten von uns lebten ihren Hass in diesen Kleinkriegen aus. Und wenn du dann einen vor dir hast, von dem du zweifelsfrei weißt, dass er mit seiner Person und allem, was er tut, ein hundertprozentiges Symbol für das ist, woran du dich rächen willst, dann zögerst du nicht. Dann schlägst du zu und wenn er jammert und stöhnt und schreit, schlägst du härter und heftiger, bis er sich nicht mehr regt. Es ist ein Rausch, ein Orgasmus geradezu, und wenn Stille eintritt, bist du zumindest wieder ein wenig entspannt, hast du einen Sieg errungen, wenn auch nur einen geringfügigen. Denn in einem einzigen Polizisten kannst du noch keinen Staat töten und du weißt, dass die nächste Schlacht bevorsteht, sobald eine beendet ist.
      In Wahrheit aber verdienten die Uniformierten kaum die Bezeichnung Feinde. Denn sie hassten nicht wie wir. Sie hatten einen Auftrag und einen Befehl und den versuchten sie aus- zuführen. Vielleicht verfügten sie über eine gute Ausrüstung, Schutzschilde und Feuerwaffen und alles Mögliche, aber sie empfanden keine Wut. Damit fehlte ihnen die Kraft, das tiefe Gefühl, mit dem wir auftraten und kämpften. Und deshalb verachteten wir sie auch.
      Diejenigen aber, die uns gewachsen waren, trieb ein ähnlicher Frust, eine Verzweiflung, die der unsrigen beinahe glich. Würdige Feinde waren sie deshalb, die Kämpfer auf dem rechten Flügel. Abgesehen von den Dienern des Staates bildeten sie eine großartige Zielscheibe und wir glaubten uns ebenfalls im Recht, indem wir sie zu vernichten trachteten.
      Sie benutzten andere Symbole, kleideten sich anders, aber sie teilten unsere Gefühle. Eigentümlicherweise wussten sie sie sogar besser auszudrücken als wir, denn sie ließen ihre gesamte Erscheinung sprechen. Bomberjacken trugen sie und das hohe, metallisch-harte Schuhwerk, das die Leute „Springerstiefel“ nannten. Meistens schoren sie sich ihre Köpfe völlig blank und ließen ihre Glatzen leuchten. Eine oder mehrere Tätowierungen, die an Hals oder Unterarm die sattsam bekannten SS -Runen
      zeigten, taten ein Übriges. Kurz: ihr gesamtes Auftreten verströmte Wut, Hass und Aggression.
      Das forderte uns heraus. Wir empfanden uns anders. Denn wir meinten, klüger zu sein, gebildeter, wissender. Von Philosophie verstanden wir etwas, von Politik. Das versetzte uns in die Lage, notfalls zu argumentieren, zu diskutieren, unseren Standpunkt, unsere gerechte Sache nach außen zu vertreten. Deshalb lebten wir unsere Gewalt erst aus, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab, während die Rechten in jeder Sekunde darauf lauerten, einen solchen Augenblick heraufbeschwören zu können.
      Unter Umständen waren sie diejenigen, die uns zuvorkamen, diejenigen, die im Wilden Westen zuerst geschossen hätten. Wir vermochten ihnen nur mit List beizukommen und wir meinten, sie seien mit weit weniger Intelligenz gesegnet als die meisten von uns. Überdies verachteten wir sie, weil sie sich an Schwächeren vergriffen und nicht einmal soviel Ehre im Leib hatten, sich ebenbürtige Gegner zu suchen.
      Denn abgesehen von der Polizei, die unseren gemeinsamen Feind bildete, richteten sie ihre Wut auf Ausländer, Schwarze oder sogar Juden. Sie beteten uralte rassistische Parolen nach und bliesen zur Hatz auf Minderheiten, die nur in geringer Anzahl vorhanden und auch sonst ausgesprochen wehrlos waren. Juden beispielsweise, die im heutigen Deutschland leben, kann man wahrscheinlich an zehn Fingern abzählen, und die einzigen, die eine gewisse Macht darstellen, sind die eingewanderten Araber und Türken. Unser Verstand war nicht imstande, nachzuvollziehen, weshalb die Rechten gegen diese Bevölkerungsanteile vorgehen wollten, und darin bestand ein Teil des Hasses, den wir unsererseits auf die Bomberjackenträger richteten. Unsere Gewalt und unser Kampf war gerechtfertigt und wir kannten die wahren Menschenfeinde, während die braunen Idioten nur blindlings um sich schlugen. Es gehörte also folgerichtig zu unseren Aufgaben, ihnen Einhalt zu gebieten.
      Jahrelang lebte ich so. Während meines Ingenieurstudiums wohnte ich in einer Kommune, die ein altes Haus besetzt hielt. Spätere Absprachen mit den Stadtbehörden führten dazu, dass wir uns bereit erklärten, die Betriebskosten zu entrichten, weshalb man uns einigermaßen in Ruhe ließ.
      Eine Zeitlang hatte ich sogar eine Freundin, doch die Liebe besaß für mich damals nur einen geringen Stellenwert, weshalb ich jenes Mädchen auch bald wieder verlor.
      Meistens waren es bestimmte Nationalfeiertage, an denen wir gegen die Polizei kämpften. Zusätzlich führten wir einen Guerillakrieg gegen die Nazis, der nur zuweilen in kurze nächtliche Straßenschlachten ausartete. Immerhin verhielten wir uns ebenso erbarmungslos wie sie. Bis heute tauchen in meinem Gedächtnis die Erinnerungen daran auf und bis heute kann ich nicht sagen, warum ich in diesen Kämpfen nur mich selbst wahrgenommen habe, nicht aber einen meiner Gegner. Immer traten wir als Gruppe auf und keiner tat etwas im Alleingang. Wir bildeten eine Bande und sie ebenso. Und meistens waren es drei oder vier Mann, die auf einen Einzelnen einschlugen oder -traten, bei ihnen wie auch bei uns. Wenn dann die Polizei eingriff, erlebten wir einen zusätzlichen Kick, einen neuen Kampfrausch, und wir genossen ihn weidlich.
      Es war ein Erster Mai, an dem der Wind sich für mich drehte. An diesem Tag marschierten die Rechten schon um der Tradition willen und es war so gut wie selbstverständlich, dass wir ihnen auflauerten. Während die Polizisten sich beinahe einen abbrachen, indem sie jede Begegnung beider Gruppen zu verhindern suchten.
      Das schafften sie nicht immer, vor allem, wenn die Dämmerung einsetzte und wir noch unterwegs waren. Diesmal zählten wir fast hundert Mann und trafen in einer Nebenstraße auf die Bomberjacken, die nur ungefähr sechzig Leute hatten auf die Beine stellen können.
      Die Schlacht begann auf der Stelle und wurde durch den Umstand begünstigt, dass wir uns unmittelbar neben den Ruinen einer alten Fabrik befanden, zwischen denen wir uns alsbald tummelten. Unzählig viele Steine und Glasscherben lagen dort umher, außerdem schwere Eisenteile und andere Gegenstände, die sich als Wurfgeschosse eigneten. Für mich war es das reinste Vergnügen, von Deckung zu Deckung zu springen und aus dem Hinterhalt zu agieren, obwohl es bei zunehmender Dunkelheit nicht ganz leicht war, Freund und Feind zu unterscheiden. Doch es dauerte nicht lange, bis die Polizeimannschaften eintrafen und ihrerseits mit Wasserwerfern und Tränengas in unseren Krieg eingriffen.
      In dem Chaos, das daraufhin einsetzte, verloren wir wahrscheinlich alle die Orientierung. Zumindest kann ich nicht mehr genau beschreiben, wie es kam, dass ich mich plötzlich in einer Art Kellergewölbe wiederfand und vergeblich nach einem Ausgang suchte. Kurz zuvor waren zwei oder drei der selbstgebastelten Handgranaten explodiert, so dass mir das Mauerwerk um die Ohren flog und eine Druckwelle mich umwarf. Möglicherweise hatte sie mich in dieses Gefängnis befördert, denn nun stand ich da, ertastete nur noch eine halbvolle Schachtel Streichhölzer in meiner Hosentasche und wusste eigentlich überhaupt nicht, was ich tun sollte.
      Sobald ich um Hilfe rief, würden die Falschen auf mich aufmerksam werden und ich fiele eventuell in die Hände der Polizei. Doch wenn ich gar nichts tat, musste ich wahrscheinlich mindestens den Rest der Nacht in diesem Loch verbringen. Der Lärm der Auseinandersetzungen draußen drang nur noch sehr gedämpft an mein Ohr und ich gewann den Eindruck, dass er allmählich abebbte.
      Es war nicht sonderlich kalt, so dass ich hoffte, es noch eine Weile aushalten zu können. Indes empfand ich meine Situation als einigermaßen gruselig und meine Fantasie gaukelte mir allerhand Schreckensszenarien vor. Angespannt lauschte ich, um beim geringsten undefinierbaren Geräusch aufspringen und mich retten zu können, obwohl ich keine Ahnung hatte, in welche Richtung ich mich in diesem Fall hätte wenden müssen.
      Bald aber beruhigte ich mich, denn ich hatte im Licht mehrerer entzündeter Streichhölzer gesehen, dass ich auf blankem Schutt saß und keineswegs etwa inmitten von irgendwelchen Insekten oder Ratten. Trotzdem entdeckte ich auch nirgends einen möglichen Weg nach draußen außer vielleicht einen höhlenähnlichen Gang, zu dem ein paar Stufen führten und der, wie ich nach dem Werfen einiger kleiner Steine feststellte, voll Wasser stand. Ich würde also bis zum Morgen warten müssen in der Hoffnung, dass zumindest einige Lichtstrahlen, die durch irgendwelche Ritzen fielen und mein Gefängnis besser sichtbar machten, mir den besten Ausweg weisen könnten. Die Situation war belämmert, aber nicht ernsthaft bedrohlich.
      Plötzlich klang es, als ob eine feste Schuhsohle auf Kies träte, ein Knirschen unmittelbar hinter meinem Rücken. Bevor ich nach einem weiteren Streichholz greifen konnte, traf mich ein schwerer Faustschlag ins Genick.
      „Verrecke hier unten, du linke Ratte!“ hörte ich eine wuterfüllte Stimme zischen, während ich mich überrascht nach vorn fallen ließ. Offenbar war ich keineswegs allein und wenn ich Pech hatte, saß ich in einer Falle, von diesen Nazibanditen mit Vorbedacht aufgestellt. Der hinterhältige Hundesohn hatte sich im Licht meiner Streichhölzer an mich herangeschlichen. Jetzt aber konnte er mich für einige Augenblicke überhaupt nicht sehen.
      Wahrscheinlich verfügte er seinerseits über keinerlei Hilfsmittel oder Lichtquelle, denn ich hörte, wie er stolperte und fluchte. Er hatte vermutlich versucht zu ertasten, wo ich lag, um mir den Rest zu geben.
      Sein heftiger Atem zeigte mir an, dass er höchstens dreißig Zentimeter von mir entfernt gestürzt sein musste. Blindlings stieß ich meine Faust in die Richtung, die mein Gefühl mir wies. Sie traf auf Haut und Knochen und meldete mir, dass ich sein Gesicht erwischt hatte.
      Er stieß einen kurzen Schrei aus, während ich mich aufrichtete, zwei Schritte rückwärts trat und wiederum ein Streichholz entzündete. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte ich, dass er nur etwa einen Meter von jenem unter Wasser stehenden Gang lag und seinerseits aufzusehen versuchte. Schnell löschte ich die kleine Flamme wieder.
      Ich hatte mir die Richtung gut gemerkt, doch als ich meinen zweiten Schlag austeilen wollte, traf dieser ins Leere. Sofort hielt ich meinen Atem an, um den meines Gegners zu vernehmen. Anscheinend aber handelte er ebenso.
      Mehrere Sekunden lang herrschte völlige Stille, danach hörte ich, wie er einen Schritt auf dem Schutt vollführte. Leider war ich mir nicht sicher, wie weit er von mir entfernt war und wollte kein weiteres Streichholz entzünden. Außerdem zweifelte ich kaum noch daran, dass wir beide allein in der Finsternis eingesperrt waren.
      „Es ist sinnlos“, sagte er plötzlich unerwartet und ich schrak ein wenig zusammen. „Die absolute Idiotie.“
      „Was?“ hörte ich mich fragen. „Was willst du damit sagen?“
      „Hier unten“, erwiderte er. „Finster wie im Bärenarsch und wir schlagen sinnlos rum. Ich brauch ’ne Pause, würde ich sagen. Oder ich hab die Schnauze voll. Du hast wenigstens Licht.“
      Es klang, als ob er sich setzte. Deshalb ließ ich mich ebenfalls auf den Boden nieder.
      „Du meinst, ich soll dir heimleuchten, hä?“ Wie sollte ich diesem Nazi-Schwein Vertrauen schenken? „Das könnte dir so passen.“
      „Hab ich nicht gesagt“, brummte er. „Eine Drescherei im Finstern ist bescheuert, das habe ich gesagt.“
      „Na gut, ich mach nichts“, lenkte ich ein. „Aber dann sitze ich zwei Minuten, bis du dich angeschlichen hast und mir eine rein haust. Da bin ich lieber derjenige, der dich erledigt.“
      Er schwieg und ich ebenfalls. Unruhig schwang die Stille im dichten Dunkel.
      „Wo bist du eigentlich her?“ hörte ich ihn endlich fragen. Offenbar saß er noch immer auf derselben Stelle.
      „Das geht dich nichts an!“ Ich war keineswegs in der Stimmung, mit ihm Frieden zu schließen.
      „Ich bin abgehauen zu Hause“, sagte er unvermittelt. „Hab’s nicht mehr ausgehalten. Bei den Nazis geht’s mir besser.“
      Darauf wusste ich keine Antwort. Vielleicht wollte er mich nur in Sicherheit wiegen. Ich beschloss, wachsam zu sein und ihn reden zu lassen, denn so vermochte ich ihn auf jeden Fall im Dunkeln zu orten.
      „Übrigens heiße ich Mike“, begann er wieder. „Ein Scheißname ist das. Warum haben sie mich nicht Michael genannt? Das wäre wenigstens ,cool‘ gewesen und anständig deutsch.“
      „Michael ist hebräisch“, wandte ich triumphierend ein. Es verschaffte mir Genugtuung, wenn ich mir vorstellte, wie dieser Nazi sich ärgern würde, in Wahrheit einen jüdischen Namen zu tragen. Und ganz nebenbei demonstrierte ich damit meine Bildung.
      „Wie heißt denn du?“ erkundigte sich Mike hingegen, ohne die unerwünschte Information zu kommentieren.
      „Benno“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Wie Benno Ohnesorg7, den Studenten, den die Polizei umgelegt hat.“
      „Schätze, so einen Typen kenne ich nicht, tut mir leid“, versetzte mein Gegner aus dem Dunkel, der mir von Minute zu Minute weniger feindlich vorkam. „Wann soll denn das gewesen sein?“
      „Lange vor meiner Zeit“, gab ich zu. „Siebenundsechzig. Ich bin aber erst Sechsundachtzig geboren.“
      „Da bist du immerhin älter als ich“, verglich er. „Vier Jahre. Hast du’s da noch nötig, dich mit diesen linken Socken rumzutreiben?“
      Wollte er erneut provozieren?
      „Nötig?“ erwiderte ich vorwurfsvoll. „Das ist eine gerechte Sache, das tue ich aus Überzeugung.“
      „Wir halten zusammen“, behauptete er da. „Das ist die Hauptsache. Die Deutschen müssen zusammenhalten und das tun sie nicht mehr. Sie verschachern ihr Land an die Ausländer. Die eigenen Leute haben keine Chance und dieses verdammte Gesocks kriegt bloß Zucker in den Arsch geblasen.“
      Irgendetwas hinderte mich daran, an dieser Stelle eine ideologische Diskussion vom Zaun zu brechen. Stattdessen fragte ich ihn, was er denn meinte mit den Chancen, die ein Deutscher nicht kriegt. Vielleicht war es sogar das Einzige, was mich wirk- lich interessierte.
      „Ich hab’ eine Lehre gemacht“, erwiderte er leise. „Gartenbau. Und ich finde nichts, bin arbeitslos. Zuletzt habe ich mich in einem Großbetrieb beworben, die suchten welche, die ein paar Wochen lang Bäume pflanzen sollten. Sogar das war eine Fehlanzeige, die haben drei Polen und zwei Rumänen genommen, die nicht mal anständig Deutsch konnten.“
      „Die brauchen denen nicht so viel zahlen, so einfach ist das“, klärte ich ihn grimmig auf. „Unausgebildete Kräfte wollen die.“
      „Ist mir scheißegal, was die wollen“, zischte er, wobei ich seine Wut buchstäblich durch die Finsternis zu mir herüberkriechen fühlte. „Ich bin Deutscher und lebe in meinem Land! Mich macht es fertig, dass Polacken und Zigeuner mir wegnehmen können, was mir zusteht! Eine anständige Arbeit steht mir zu, eine, bei der ich ordentlich verdiene, das kann ich von meinem Land verlangen! Aber eben nicht bei dieser Idiotenregierung!“
      „Was macht denn dein Vater?“ wollte ich wissen.
      „Der ist Arzt, der hat’s ziemlich dicke“, berichtete Mike. „Er wollte mir sogar ein Studium bezahlen, aber ich hatte kein Lust zum Studieren. Garten, das ist meine Welt, davon hab’ ich ge- träumt. Aber entweder du schuftest für irgendeine Gemüsebude zum Nulltarif oder wenig drüber oder suchst dir was anderes, was dir am Arsch vorbei geht. Sowas kotzt mich an, sag’ ich dir! Und wenn sich mein Alter dann noch hinstellt und mich ... Ich bin jedenfalls abgehauen.“
      „Lebst du von irgendwas?“ Meine Neugier wuchs.
      „Meine Mutter steht zu mir, die steckt mir immer mal was zu, wovon der Alte nichts wissen darf. Wenn der erfährt, dass ich bei den Nazis bin, hetzt er selber die Bullen auf mich, schätze ich. Ich wohne mit zwei Anderen in einem Hinterhofhaus, wir haben die Miete noch allemal ermeckert. Ab und zu habe ich mal was für einen Friedhof gemacht, schwarz. Aber das ist kein Zustand, ich will als anständiger Bürger in diesem Land leben, verstehst du das?“
      Es klang, als stoße er mit seiner Faust in einen Haufen Schutt.
      „Dieses Land ist nur für die Reichen da“, dozierte ich finster. „Und auch bloß das Geld zählt. Wenn du kein’s hast, bist du draußen, und wenn du nicht weißt, wie du welches verdienen kannst, fragen sie trotzdem nicht danach. Das Lumpenpack da oben hat sich seine Paläste eingerichtet und das, was wir davon abkriegen, ist das, was sie schon wieder ausgekotzt haben. Ich fackle so lange Autos und Container ab, bis alles zu Bruch geht! Denen ihre ,Demokratie‘ oder wie sie das nennen, das ist die größte Scheiße, die die Weltgeschichte je erlebt hat!“
      Auch in mir kochte es nun. Was aber in den folgenden Stunden geschah, vermag ich bis heute nicht zu verstehen.
      Wir hörten nur unsere Stimmen und sprachen endlos lange miteinander. Dabei blieben wir auf ein und derselben Stelle sitzen. All unsere Wut, unseren Frust und die wahnsinnige Ohnmacht, die wir empfanden, stießen wir in die Finsternis. Wenn wir nicht in dieser undurchdringlichen Dunkelheit gesessen hätten, wären wir einander unweigerlich an die Gurgel gesprungen. Einem Menschen, der sich zu meinen erklärten Feinden zählte und dem ich mit meinen eigenen Augen hätte ins Gesicht sehen müssen, hätte ich niemals die Tiefen meiner Seele offenbart.
      Dennoch habe ich genau das getan und jener Mike hat mir geantwortet, als sei er ein unsichtbarer Spiegel.
      Als am Morgen die ersten Sonnenstrahlen die Welt draußen erhellten, machten sie einen schmalen Schacht sichtbar, der am Ende des Ganges lag, hinter dem wir saßen und redeten. Das Licht, das bis zu uns vordrang, genügte, um uns zu beweisen, dass wir nur eine ungefähr zehn Meter lange Strecke, die von knöcheltiefem Wasser bedeckt war, überwinden mussten, um ins Freie zu gelangen.
      Danach standen wir draußen, übermüdet, hungrig und fröstelnd. Ohne zu wissen, warum, verabschiedeten wir uns so herzlich, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte: Wir umarmten einander, lange und fest. Aber wir tauschten keinerlei Versprechen und ich sah Mike auch niemals wieder.
      Es war immer noch dieselbe Welt, in der ich lebte, dasselbe Deutschland, von kaltschnäuzigem, geldgierigem Kapitalismus beherrscht und soziale Wärme heuchelnd. Niemand ermutigte mich, das zu tun, was ich am liebsten tun wollte, niemand kam und zeigte Interesse an meinem Erfindergeist. Ich wusste nicht, aus welchen Quellen ich neue Hoffnung schöpfen sollte. Die Sache, für die ich bislang gekämpft hatte, hielt ich deshalb weiterhin für gerecht und gut und ich diskutierte auch nicht über Gewalt, denn der Zweck heiligte die Mittel.
      Selbst aber konnte ich nicht mehr gegen meine Feinde zu Felde ziehen, weder gegen die Rechten noch die Polizei. Denn ich wusste nun, dass sie nicht meine Feinde waren.

      (Aus: Andreas H. Buchwald, 1 von 11 - Erzählungen aus dem Hut, AndreBuchVerlag 2011, eBook antholo.de)
      Ich wünsche mir Chancen, nicht Sicherheiten.
      Albert Schweitzer
    • hmm ...

      ein autonomer und ein nazi-anhänger treffen aufeinander. in dieser situation reden die beiden miteinander, sie tauschen sich aus ....

      vielleicht stellen sie sogar fest, dass "vermeintliche" feindbilder nahezu identisch sind, ja dass dieses system - in dem beide leben - ursächlich mit verantwortlich ist für die lebens-sitiation (wie auch die zukunfts-perspektive) der beiden ist.

      vermeintliche feinde mit ähnlichem feindbild - treffen im Dunkel aufeinander ...


      eine "geschichte" welche die realität ziemlich genau trifft. lohn-nebenkosten und sozialleistungen verteuern die arbeit, so dass die beschäftigung "vermeintlich" billiger Arbeitskräfte - die günstigste Lösung "scheint" ...

      ein paradoxon ;( ;( ;(

      dieser "zeit"
    • nanabozho schrieb:

      Ich bin´s schrieb:



      [...] Vielleicht kommen auch noch ein paar Kritiken, wer weiß. Es sollte auch nur mal eine Art Leseprobe sein.


      Hermann hat das Wesentliche schon gesagt - es ist tief dem Leben nachempfunden. Am Anfang glaubte ich, Du schriebest eine Autobiographie :) , konnte mir aber nicht vorstellen, dass DU ein Erfinder fuer einen neuartigen Automotor bist.
      Lange Rede kurzer Sinn: Es hat mich tief beruehrt, ich habe geweint,

      mi traenenfeuchtem Gruss Jo

      PS Ich moechte es gerne weiterverwenden, natuerlich mit Verweis auf Dich und Deine Seite, denke das ist ok?
      "Nehmt Eure Sprache ernst! Wer es hier nicht zu dem Gefühl einer heiligen Pflicht bringt, in dem ist nicht einmal der Keim für eine höhere Bildung vorhanden."
      "Es wurde bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit verboten."

      Friedrich Nietzsche
    • Oh, danke, Jo,

      natürlich kannst Du es weiterverwenden, da das Buch - das 11 Erzählungen verschiedenster Couleur enthält - ja sozusagen schon veröffentlicht wurde, wenn auch noch nicht in Papierform. Es ist praktisch vorerst nur als eBook erhältlich, der entsprechende Link ist ja da. Ich hoffe, dass ich im Laufe des kommenden Jahres auch das Papierbuch herausgeben kann.
      Selbst der 2 und 3. Teil der JAKOBSMUSCHELGESCHICHTEN sind noch nicht in Papierform auf dem Markt, sondern ebenfalls nur als eBook. (Der erste läuft aber nun zusehends.)
      Ich muss immer einschätzen können, dass eine gediegene Offset-Auflage auch gut genug läuft und wenn ich sehe, dass sich das andeutet, geht das nächste Werk "ins Rennen".
      Übrigens schreibe ich ständig weiter, und vom 11 x 11-Zyklus sind insgesamt schon 4 fertig, da schreibe ich am fünften.

      Herzliche Grüße,
      nanabozho (bzw. Andreas)
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      Albert Schweitzer