Die Übergriffe der Sicherheitskräfte konnten diesmal keinen Abschreckungseffekt erzielen, der zur Zersplitterung der Bewegung geführt hätte. Stattdessen ist spätestens mit der breiten Unterstützung der Wall-Street-Besetzer durch Teile der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung eine kritische Schwelle überschritten worden, bei der die Bewegung eine enorme Eigendynamik entfesselt und auf immer mehr US-Bürger anziehend wirkt.
Letztendlich sind es die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise, die immer mehr Menschen aus eigener bitterer Erfahrung zu der Einsicht kommen lassen, dass die gegenwärtige Gesellschaft ihnen keine annehmbaren Zukunftsperspektiven bieten kann.
Diese Protestwelle artikuliert somit nur die in der Bevölkerung weitverbreitete Ahnung, dass das bestehende Gesellschaftssystem fundamentale Fehlentwicklungen aufweist. Wenn es einen gemeinsamen Nenner dieser so vielfältigen und auch in sich widersprüchlichen Bewegung gibt, so ist es eben diese Einsicht, dass es "so nicht weitergehen kann".
Das Spektrum der von den Demonstranten angemahnten Veränderungen des bestehenden Systems ist so disparat wie die Zusammensetzung der Bewegung, es reicht von http://www.youtube.com/watch?v=YsQw6SfNJfw&feature=player_embedded] gemäßigten Reformvorschlägen[/url] bis zu Forderungen nach einem grundlegenden, radikalen Systemwechsel, nach "kollektiver Befreiung". Viele Demonstranten begreifen diese Protestwelle als eine Art des "massenhaften Erwachens", währenddessen die Menschen die Illusion verlieren, bei der gegebenen Gesellschaft handele es ich um eine "natürliche" und letztendlich unabänderliche Konstante menschlicher Existenz. Der überwältigende Drang nach einer grundlegenden Veränderung des Entwicklungsgangs unserer Gesellschaft kommt in Aussagen wie etwa der folgenden zum Ausdruck:
Die Welt kann nicht auf dem gegenwärtigen Pfad verbleiben und überleben. Diese Idee ist egoistisch und blind. Es ist nicht tragbar.
[IMG:http://www.heise.de/tp/artikel/35/35663/35663_2.jpg]
Plakat aus San Francisco, das auch zeigt, dass Anonymous eine wichtige Rolle spielt. Bild: Occupy Together
Modell einer neuen Gesellschaft
Den insbesondere in US-Massenmedien aufgeworfenen Fragen nach klaren und realisierbaren Forderungen der Demonstranten versuchte das Magazin Adbusters in der Kurzreportage Die Forderung ist ein Prozess eine andere Wahrnehmung entgegenzustellen, bei der die Prozesse der Selbstorganisation innerhalb der Bewegung ins Zentrum der Betrachtungen rückten.
Vielleicht ist somit nicht entscheidend, wogegen die Demonstranten sind (deren gemeinsamer Nenner die Forderung nach Change, nach Wechsel ist), sondern welche Alternativen sie selber während ihrer Proteste konkret hervorbringen und auch vorleben:
Es ist ein Modell einer neuen Gesellschaft. Es ist kein Protest in dem Sinne, dass man gegen irgendetwas seinen Unmut artikuliert. Es ist ein Weg, etwas Neues zu formulieren.
Quelle
Mit diesen Worten beschrieb eine Aktivistin die basisdemokratisch durchgeführte Selbstorganisation in dem Protestcamp in New York. Viele der engagierten Kampteilnehmer in New York haben den Anspruch, diese Alternative, dieses "Neue" vorzuleben. Tatsächlich kann den Demonstranten auf dem Liberty Square in New York nicht vorgeworfen werden, Chaos oder Unordnung zu hinterlassen.
Der ehemalige Zuccotti Park ist in spezielle Zonen aufgeteilt worden, in denen Informationen, Nahrung, Bekleidung oder medizinische Versorgung gewährt werden. Hierfür sind spezialisierte Teams verantwortlich, die sich im Verlauf von Diskussionen in "Allgemeinen Versammlungen" herauskristallisiert haben. Demonstranten in entsprechenden Arbeitsgruppen sorgen so auch für die Absicherung des Geländes vor Polizeiübergriffen oder für die Müllbeseitigung.
Die ersten Aktivisten, die einem Aufruf der Zeitschrift Adbusters folgten und ab dem 17. September auf dem Park ausharrten, haben keinerlei organisatorische Vorbereitungen oder logistische Unterstützung. Der gesamte Organisationsprozess entwickelte sich basisdemokratisch über sogenannte "Allgemeine Versammlungen", auf denen alle Beteiligten stimm- und redeberechtigt sind. Innerhalb dieses wochenlangen demokratischen Organisationsprozesses haben sich die spezifischen Strukturen des Protestcamps ausdifferenziert.
Die konkreten "Regeln", die sich die Demonstranten in New York auf den Versammlungen selbst gegeben haben, befinden sich auch in permanenter Veränderung. Das Protestcamp gleicht somit einem sozialen Labor, in dem tatsächlich neue Formen des Zusammenlebens erprobt und auf ihre Praktikabilität überprüft werden. Ähnlich verhält es sich mit neuen kollektiven Eigentumsformen, sowie der alternativen Distribution von Ressourcen, die mitten im Zentrum des Finanzkapitalismus erprobt werden.
Diese "führerlose" und hierarchiefreie Struktur beschrieb der renommierte Journalist Chris Hedges, der etliche Tage unter den Demonstranten verbrachte, in einer seht lesenswerten Reportage. Die Besetzung der Wall Street habe eine alternative Gemeinschaft geschaffen, die das "profitangetriebene hierarchische System" des Kapitalismus herausfordere. Selbst wenn die New Yorker Polizei unverzüglich das Camp räumen sollte, sei es für die Mächtigen bereits zu spät, um gegenzusteuern, da "diese Vision und Struktur eingeschrieben wurde in Tausende von Menschen", die in dem Protestcamp lebten und kämpften, so Hedges. Dieser in New York vorgelebte Entwurf sei nun dabei, in "Städte und Parks im ganzen Land" transferiert zu werden. Hedges zufolge kann der gemeinsame Nenner dieses Kerns der Protestbewegung in einem Wort zusammengefasst werden:
Rebellion. Diese Demonstranten sind nicht gekommen, um im System zu arbeiten. Sie wollen keine Reform des Wahlrechts. Sie haben kein Vertrauen in das politische System oder in die beiden großen Parteien - und dies sollten sie auch nicht. Sie wissen, dass die Presse ihre Stimmen nicht verstärkten wird, und deswegen haben sie ihre eigene Presse geschaffen. Sie wissen, dass die Wirtschaft den Oligarchen dient, und deswegen haben sie ihr eigenes Gemeinschaftssystem geschaffen.
Chris Hedges
Diese vielgestaltige und auch widersprüchliche Rebellion ist längst dabei, auch auf andere Länder und Kontinente überzugreifen. Ähnliche Aktionen fanden bereits in http://www.youtube.com/watch?v=fXK6LAwJYDQ&feature=player_embedded]Dublin[/url] statt. Demnächst startet eine vergleichbare Besetzungskampagne in London, wo inzwischen Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen mit der Besetzung der Westminster Bridge gegen Privatisierungspläne protestieren. In Brüssel haben Hunderte von spanischen Aktivisten ein Protestlager errichtet, die von belgischen Demonstranten unterstützt wurden. Selbst in Deutschland sind bereits Dutzende von Facebook-Gruppen entstanden, die sich der Bewegung anschließen.
Als ein weiteres Kraftzentrum dieser Protestwelle fungiert die spanische Bewegung der "Empörten" (Europa vom Empörten-Virus infiziert), aus deren Umfeld auch die Initiative zu dem globalen Aktionstag gegen die kapitalistische Dauerkrise am 15. Oktober erwuchs. An diesem Tag will diese global in Entstehung begriffene Bewegung daran gehen, im gemeinsamen Kampf für einen weltweiten Wandel die nationalen und weltanschaulichen Differenzen all der Menschen zu überwinden, die zu den 99 Prozent zählen, die bei der derzeitig eskalierenden Krise unter die Räder zu geraten drohen.
Massenhaftes Erwachen
"Nehmt Eure Sprache ernst! Wer es hier nicht zu dem Gefühl einer heiligen Pflicht bringt, in dem ist nicht einmal der Keim für eine höhere Bildung vorhanden."
"Es wurde bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit verboten."
Friedrich Nietzsche
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