Hätte die evolutionäre Erkenntnistheorie Recht mit ihrer Annahme, das die Selektion die Erkenntnisfähigkeit des Hirns im evolutionären Prozess hervorgebracht hat, so sollten auch Lebewesen ohne Hirn, z.B. Einzeller, über diese Fähigkeit verfügen, denn auch sie haben bis heute überlebt, und dies bereits weitaus länger als Hirntiere. Erkenntnisfähigkeit kann also nicht an Nervengewebe gekoppelt sein, sondern sollte dann eine Fähigkeit genetisch gespeicherter Strukturen sein. Der Mensch denkt nicht mehr bildhaft in Form von Filmen, sondern begrifflich. Filmartiges Denken erfordert viel Speicherplatz, ist jedoch äußerst schnell in seiner Berechnung von Bewegungsabläufen, begriffliches Denken ist im Vergleich dazu langsam, aber spart Speicherplatz im Hirn, der anderweitig genutzt werden kann. Begriffe werden von der Gemeinschaft entwickelt. Begriffliches Denken und Sprache verbessert nicht die Überlebenswahrscheinlichkeit des Individuums, sondern der Gruppe. Denken und Sprache wird nicht durch Selektion des Individuums, sondern durch Selektion von Gruppen, die mittels Sprachverständigung erfolgreicher jagen, evolutionär entwickelt. Zivilisation mittels wissenschaftlicher Forschung stellt die Fortsetzung der Evolution dar.
Die Position der evolutionäre Erkenntnistheorie nach Vollmer
Die evolutionäre Erkenntnistheorie erhebt den Anspruch, die menschliche Erkenntnisfähigkeit auf eine objektive Grundlage zu stellen (Wuketits). Ihre Kernaussage lautet, dass sich die menschliche Erkenntnisfähigkeit evolutionär entwickelt hat. Es trifft aus Sicht der Philosophie lebender Systeme (=PhilS) selbstverständlich für jede menschliche Fähigkeit, ob es das Gehen, das Fressen, Ausscheiden oder das Denken ist, zu, dass der Mensch seine biologisch erworbenen Fähigkeit nicht selbst hergestellt, sondern von seinen biologischen Vorfahren genetisch ererbt hat.
Bezüglich des Wahrheitscharakters der von Darwin beschriebenen biologischen Evolution sehe ich keine Differenzen zwischen der evolutionären Erkenntnistheorie und der PhilS. Einigkeit besteht im Besonderen hinsichtlich der unstrittigen Voraussetzung von Erkenntnis, dass aus der Sicht des Individuums ein „Subjekt“ von einem „Objekt“ getrennt ist. Das „Subjekt“ nennt die PhilS auch das ICH. Zum Objekt gehört aus der Sicht des ICHs der eigene lebende materielle Körper, der seinerseits von der Außenwelt getrennt wird, so dass ein Körperinneres von einem Körperäußeren unterschieden wird. Über Sensoren gelangen Informationen aus dem Körperäußeren, der „Umwelt“, in das Körperinnere und werden dort über ein Nerven an das Zentralnervensystem weitergeleitet. Dor werden sie in subjektive Wahrnehmungen verschiedener Art (optische, akustische, olfaktorische u.a.) umgewandelt. Diese Wahrnehmungen registriert das Ich als Subjekt, sie bilden die Grundlage der Erkenntnis. Ich denke, dies als gemeinsamen Ausgangspunkt der Diskussion für beide Diskussionspartner (evolutionäre Erkenntnistheorie und PhilS) akzeptabel dargestellt zu haben. Die erste erkenntnistheoretische Frage wäre die, ob das subjektive „Bild“ (um bei der optischen Wahrnehmung zu beginnen) dem objektiven entspricht. Diesbezüglich gibt es auch eine philosophische Position, die dies abstreitet und daher jegliche Erkenntnis grundsätzlich in Frage stellt. Diese Position kann hier jedoch unberücksichtigt bleiben, da sie wirklichkeitsfern ist und zu keinerlei praktischen Konsequenzen führt.
Bei der Betrachtung der Einzelheiten beginne ich bei der Aussage der evolutionäre Erkenntnistheorie, dass eine Passung subjektiver und objektiver Strukturen vorliege (Vollmer). Sie würden gemeinsam Erkenntnis durch eine Wechselwirkung subjektiver und objektiver Strukturen ermöglichen. Daraus resultierende Erkenntnis sei nützlich, steigere die Chancen für die Reproduktion (S.32). Die interne Rekonstruktion sei zwar nicht immer korrekt, es gäbe Sinnestäuschungen und sie können immer weiter verbessert werden, sie stimme jedoch mit der äußeren Welt überein. Vor allem sei klar, dass von einem Unterschied der Wahrnehmung stets auf einen Unterschied in der Realität geschlossen werden könne. Wahrnehmung sei real, aber nicht immer „objektiv“. Die evolutionäre Erkenntnistheorie löse ein philosophischer Problem und könne der Philosophie versichern, dass unsere subjektiven Erkenntnisstrukturen mit den realen Strukturen übereinstimmen müsse, weil nur so das Überleben ermöglicht werde (S.36). Die Passung der kognitiven Strukturen sei das Ergebnis eines Anpassungsprozesses, auch wenn es sich (noch) nicht um eine ideale Anpassung handele (S.39/40). Eigentlich erkläre die evolutionäre Erkenntnistheorie lediglich etwas Wohlbekanntes. Evolution sei erkenntnistheoretisch ein Prozess von Vermutungen und Widerlegungen. Für das Überleben relevante Falschheit werde in der Evolution eliminiert (S.41). Die evolutionäre Erkenntnistheorie befasse sich mit Begriffen und Hypothesen als kognitive Strukturen, nicht mit Wertungen. Die menschliche Erkenntnisfähigkeit habe sich phylogenetisch entwickelt, jedes Individuum verfüge über sie nun a priori. Da wir über keine andere erkenntnistheoretischen Methoden als über diese evolutionär entwickelten verfügen könnten, sei eine Erkenntnis des Dings an sich unmöglich. „Es ist unmöglich, irgend etwas über das Ding an sich zu wissen (S.43). Die evolutionäre Erkenntnistheorie erkläre im übrigen nicht die Evolution menschlicher Erkenntnisse, sondern nur die Evolution unserer kognitiven Fähigkeiten S.47). Sie behaupte nicht, kulturelle Evolution gehorche denselben Gesetzen wir die biologische Evolution. Im Gegenteil: die jeweiligen Gesetze seinen völlig unterschiedlich (S.48). Die Welt, an die sich unser Erkenntnisapparat im Lauf der Evolution angepasst habe, sei nur ein Ausschnitt der wirklichen Welt. Diese kognitive Nische nenne er „Mesokosmos“ S.51). Um diesen zu beschreiben, legt Vollmer die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit zugrunde. Vollmer kritisiert das Objektivitätspostulat der Wissenschaft. Objektivität könne nie endgültig bewiesen werden S.67. Nach Volmer sei Mathematik eine Strukturwissenschaft wie Logik usw. (S.73), sie sage daher nichts über die Welt aus (S.74). Allerdings sei die Rekonstruktion der realen Welt auch das Ziel des Wissenschaft S. 70). Erkenntnisfortschritt ergebe sich daraus, dass die Theorie so lange modifiziert werde, bis sie zur fest vorgegebenen Realität passe (S.74). Das Neugeborene bringe u.a. genetisch bedingte Information über die Welt mit, Dreidimensionalität, Zeitrichtung, Kausalität, Regelmäßigkeiten u.a., was sich in der Phylogenese bewährt habe (75/76). Unser angeborener Erkenntnisapparat benütze bereits erfolgreich Mathematikkenntnisse (S.76). Allerdings seien Relativitätstheorie oder Quantentheorie unmöglich biologisch relevant und daher Ergebnis der kulturellen Evolution. Höhere Mathematik sei Nebenprodukt der Evolution (S.77). Die individuell a priori vorhandene Erkenntnisfähigkeit sei „lediglich mesokosmisch, angemessen für das Überleben in einer Welt der mittleren Dimensionen“ S.79). Dies betreffe auch das kausale Denken. Von der Ursache werde Energie auf die Wirkung übertragen, was bereits Konrad Lorenz erkannt habe.
Geist und Gehirn seien nach dualistischer Auffassung verschiedene Substanzen in aktiver Wechselwirkung (S.83), nach monistischer Position sei der Geist eine Funktion des Zentralnervensystems.(S.84). Er sei nach Meinung der evolutionären Identitätstheorie als emergente Funktion entstanden. Erkenntnis sei ein geistiger Prozess, eine Gehirnfunktion unter vielen. Wesentliche Vorbedingung sei das Gedächtnis. Wahrnehmung stelle eine Rekonstruktion der äußeren Realität dar. Als dritte Komponente wird die Simulationsfunktion dargestellt, das Hantieren mit Vorstellungen (S.85). Diese mentalen Prozesse seien identisch mit physikalisch-chemisch-neuronalen Prozessen. Wenn diese mentalen Prozesse allerdings nur Epiphänomene physikalischer Prozesse seien, wären sie für die Evolution entbehrlich (S.86). Die evolutionäre Erkenntnistheorie bestreite, dass es sich um derartige Epiphänomene handelt, Bewusstseinsprozesse seien eine Eigenschaft bestimmter physikalisch-chemisch-neuronalen Hirnprozesse.
So weit zur Darstellung der evolutionäre Erkenntnistheorie durch Gerhard Vollmer.
Die Vollkommenheit ist unerreichbar. Gewiß ist die Vollkommenheit unerreichbar. Sie hat nur den Sinn, deinen Weg wie ein Stern zu leiten. Sie ist Richtung und Streben auf etwas hin.
- Antoine de Saint-Exupéry, Die Stadt in der Wüste
- Antoine de Saint-Exupéry, Die Stadt in der Wüste