Runenzauber

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    • Runenzauber

      Runenzauber






      Nie und nimmer hätte ich geglaubt, dass mir so etwas pas­sieren könnte. Wenn mich jemand nach meinen besonderen Eigenschaften fragt, beginne ich normalerweise mit den Worten aufgeklärt und weltoffen. Seit jenen Ereignissen aber kommt es mir so vor, als sei das Eine der Feind des Anderen.
      Ich wuchs im ostdeutschen Ghetto – also jener berühmten DeDeÄr – auf wie die meisten meiner Schicksalsgenossen: gut dressiert und illusionslos atheistisch. Wenn man mir damals etwas von Magie erzählt hätte, wäre entweder mein Zeigefinger automatisch zur Stirn gewandert oder ein Mann mit Zylinder vor mein inneres Auge getreten, der seinem Publikum ein weißes Kaninchen präsentiert. Und einen Teil meiner Skepsis habe ich – aus Gesundheitsgründen, wie ich meine – bis heute bewahrt.
      Was mir geschehen ist, hat mich trotzdem so umgehauen, dass ich recht nahe „an die Kante“ gekommen bin. Will sagen, es gab eine Zeit, während der ich nicht mehr und nicht weniger wollte als mich umbringen.
      Siebzehn war ich, als die Mauer fiel, und die ganze Welt raunte mir zu: Jetzt! Jetzt hast du die Chance! Stürz dich hinein ins Gewühl, lebe was dir Spaß macht, lerne alles kennen!
      Und so stürzte ich mich eben.
      Aber weniger ins Gewühl, weniger in das, was mir wahrhaft Spaß verschafft hätte, sondern in eine rückhaltlose Verliebtheit, die mich in die Arme eines zwölf Jahre älteren Ausländers trieb, eines Syrers, der mein Verhängnis wurde. Nicht dass er grob zu mir gewesen wäre oder mich geschlagen hätte, wie man das arabischen Männern oft nachsagt. Sondern ich wusste nichts.
      Weder von Männern im Allgemeinen, noch von Orientalen im Besonderen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung von ihrer Kultur, von Sitten und Gebräuchen geschweige denn ihrem Familienleben. Und vom Islam – selbstverständlich war er Muslim und benutzte seinen Gebetsteppich regelmäßig – schon gar nicht.
      Damals hatte er sich bereits vier Jahre in Deutschland aufgehalten, also vor allem noch in der DeDeÄr, so dass er unsere Sprache sehr gut beherrschte. Geschickt war er zudem, nett, zuvorkommend, genau richtig, um mir für eine Weile das Gefühl von Wolke Sieben zu geben. Kein Wunder, denn er stellte sozusagen meine erste Erfahrung mit Männern dar, und ich hatte keinerlei Vergleich. In die verschiedensten Varianten des Liebesspiels hat er mich jedenfalls gut eingewiesen, das muss ich ihm lassen; ich habe mich nur nie gefragt, wo er denn seine Kenntnisse hatte sammeln können. Jung und grün wie ich war, glaubte ich ihm und fand es sogar faszinierend, wie er mich mehrmals belehrte, dass es vor Geschlechtskrankheiten unbedingt schütze, wenn das Glied eines Mannes beschnitten sei.
      Um es kurz zu machen: Wenige Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag merkte ich, dass ich schwanger war. Ich hätte mich ohrfeigen können: Wo war mein Verstand geblieben, der doch gemeinhin ganz gut arbeitete, wo meine „Aufklärung“? Warum hatte ich nicht jeweils darauf bestanden, dass er im kritischen Augenblick ein Kondom benutzte? Die Sache vorab mit der Pille zu lösen, hatte ich verpasst; vielleicht war ich einfach zu verliebt gewesen, hatte sozusagen alles „Störende“ ausgeblendet. Und nun saß ich in der Patsche.
      Ich war das einzige Kind meiner Eltern, und wir lebten in einer Plattenbauwohnung. Mein Zimmer nahm sich nicht einmal klein aus; ich fand es für mich durchaus geräumig genug. Vater und Mutter arbeiteten beide und waren nicht oft zu Hause; und soviel ich heute noch weiß, hatte besonders er sehr gut verdient. Ihre Arbeitswut war aber wohl auch einer der Gründe, weshalb immer weniger Aufmerksamkeit für mich abfiel und ich mich so zeitig jenem Mann an den Hals geworfen hatte. Der übrigens Abd’allah hieß, „Diener Gottes“, wenn man so will.
      Vielleicht war es ein Fehler, dass ich es ihm zuerst sagte. Und seine Reaktion war völlig anders, als ich erwartet hatte. Er zeigte nämlich unverhohlene Freude und rief sofort: „Wenn es ein Sohn ist, heiraten wir.“
      Das machte mir jedoch Angst, dazu fühlte ich mich eindeutig zu jung.
      Und was bedeutete es für einen wie ihn, zu „heiraten“? Wie musste ich mir das vorstellen?
      Ich versuchte, mich damit zu beruhigen, dass ich an das dachte, was ich gesehen hatte: Seine Wohnung, in der wir uns hin und wieder getroffen hatten, reichte gut für eine junge Familie aus. Ganze drei Zimmer enthielt sie, eine Küche und einen Balkon dazu. Er arbeitete als Assistenzarzt in einer der städtischen Kliniken, und so konnte er sich das offensichtlich leisten.
      In Wahrheit aber hatte ich meine heile Welt verloren, und nichts konnte sie mir zurückbringen. So gestand ich nach ­einigen schlaflosen Nächten meinen Eltern das Ganze, obwohl ich mich ihnen längst mehr oder weniger entfremdet hatte. Zu meinem Erstaunen nahmen sie die Nachricht durchaus gefasst auf. Im ersten Augenblick starrten mich beide zwar einigermaßen erschüttert an, dann aber nickte mein Vater nur und sagte lakonisch:
      „Na, da lass es nicht hängen und kümmer dich darum, wie diese Muslime ticken. Damit du nicht dein blaues Wunder erlebst, wenn er dich in sein Land mitschleppt. Du bist alt genug, ich mache dir keine Vorschriften. Andererseits ist es noch nicht zu spät, die Sache zu bereinigen.“
      Womit er natürlich eine Abtreibung meinte.
      Am Tag darauf hatte ich ein längeres Gespräch mit meiner Mutter, eines, das mir ihr tiefes Verständnis für mich offenbarte, und das ich deshalb noch lange im Gedächtnis behielt.
      „Ich würde davon absehen, es wegmachen zu lassen“, riet sie. „Ich kenne mindestens zwei Frauen, denen es damit nicht gut gegangen ist. Aber weniger deswegen. Sondern, wenn dein Abd’allah es schon weiß und das Kind will, könntest du dir wahnsinnig viel Ärger einhandeln. Es ist bekannt, dass die Araber mit solchen Sachen nicht spaßen. Bei denen gehört es eben dem Vater, so oder so. – Wenn du aber Angst hast, dass er dich, kaum geheiratet, ohne weiteres nach Syrien verschleppen kann, dann willige nicht ein. Bring das Kind zur Welt und zieh es groß, und wenn wir können, helfen wir dir. Schon mal, um eine Wohnung zu finden, denn hier wird es dann zu eng. Lebt weiter zusammen, solange er damit einverstanden ist, und mach ihm klar, dass du dein Leben als Deutsche führen willst. Wenn er so lange schon hier ist, versteht er es bestimmt.“
      Ihre Worte gefielen mir sehr. Besonders der Weg, den sie mir damit zeigte und den ich damals auch sofort entschlossen war zu gehen. Doch wir hatten diesen Mann unterschätzt, allesamt.
      Brav unterzog ich mich dem üblichen Betreuungsprogramm für Schwangere. Und schon bei einer den ersten Ultraschalluntersuchungen stellte sich heraus, dass unser Kind männlichen Geschlechts war.
      Von diesem Zeitpunkt an wurde Abd’allah unleidlich. Er drängte mich zur Heirat, drohte mit allem Möglichen, wenn ich nicht einwilligte. Denn – endlich begriff ich – er wollte nun nicht mehr mich selbst, sondern den Jungen, seinen Sohn.
      Die letzten Wochen vor der Geburt wurden mir dadurch zur Qual. Eine Freundin, der gegenüber ich mich aussprechen wollte, besaß das eigenartige Talent, mir das berühmte Buch der Betty Mahmoody5 zu schenken, jener Amerikanerin, die ihre Hölle im Iran erlebt hatte. Nach dem Lesen der ersten hundert Seiten sank mein Mut ins Bodenlose.
      Aber ich war noch immer in Deutschland, war quicklebendig, und von Abd’allahs Familie hatte ich bis dahin keine Menschenseele zu Gesicht bekommen. Einzig seine Drohungen und meine wachsende Angst setzten mir zu.
      Wiederholt riet mir mein Vater dringend, mich mit dem Islam zu beschäftigen, seinen Gesetzen und Sitten. Zu jenem Zeitpunkt aber war ich bereits so weit, dass ich diese Religion zu hassen begann, ohne sonderlich viel über sie wissen zu wollen.
      Ich verstand nur, dass Abd’allah wild auf das Kind war, es auf Gedeih und Verderb in seinen Besitz zu bringen gedachte. Und als ich – nach einer erstaunlich unkomplizierten Entbindung – die ersten Schreie meines Sohnes hörte, wehrte ich mich vehement gegen die Schwester, die ihn mir entsprechend der Regeln zeitweilig abnehmen musste.
      Dann kam er und besuchte mich. Als er sich wieder verabschiedete, blickte er mir hart in die Augen und versprach: „Wenn du mich nicht heiraten willst, musst du mir den Jungen geben. Und wenn du auch das nicht tust, werde ich dich verfluchen.“
      Damit konnte ich überhaupt nichts anfangen, es lag außerhalb meines bisherigen Erlebnisradius. Mir entging nur nicht, dass er ordentlich wütend und böse war, und umso fester entschied ich, ihn weder zu heiraten noch ihm das Kind zu überlassen. Nichtsdestoweniger wuchs unmerklich meine Angst, mit jedem Tag, der verging.
      Abd’allah rief nicht an und kam nicht mehr. Wahrscheinlich wartete er, dass ich mich besann, meinen Starrsinn bereute und mich von selbst meldete. Inzwischen aber fehlte mir dazu der Mut.
      Ich hoffte, die Zeit werde das Problem lösen. Meine Eltern bemühten sich rührend um mich. Nach einem Vierteljahr, während dem nichts Besonders geschah, glaubte ich, aufatmen zu können, und außerdem hatte mein Vater mir eine kleine Wohnung verschafft, für deren Mietzahlungen er zu dreißig Prozent selbst aufkam. Dem Jungen hatte ich den Namen Stefan gegeben, und ich fand, dass er gut gedieh.
      Die Schrecken, die dann über mich hereinbrachen, begannen urplötzlich, wie aus heiterem Himmel. Mit einem heftigen Verkehrsunfall, der meine Mutter tötete und meinen Vater in den Rollstuhl beförderte. Und obwohl ich darüber untröstlich war, hielt ich das Ganze entsprechend meiner Erziehung für nichts weiter als Pech, einen bedauerlichen Zufall.
      Ich befand mich nun sozusagen im Babyjahr, hatte aber meine Lehre als Verkäuferin abgeschlossen und eine feste Zusage erhalten, nach meiner naturbedingten Pause eine Arbeit in einem der neuerdings wie Pilze aus dem Boden schießenden Baumärkte beginnen zu dürfen. Dass jedoch eben dieses Gebäude, in dem ich eigenes Geld verdienen wollte, eines Nachts aus ungeklärter Ursache bis auf die Grundmauern niederbrannte, ließ in mir einen Verdacht aufkeimen, der mich erschauern ließ und all meine Urängste weckte.
      Mein Vater, der keinerlei Erwerb mehr nachgehen konnte und eine Rente beantragen musste, war nicht mehr in der Lage, mich finanziell zu unterstützen. Ich zog also in die elterliche Wohnung zurück und betreute ihn und mein Kind, so gut ich es verstand. Meine inneren Nöte aber verbarg ich vor ihm, denn er hätte sie – das jedenfalls glaubte ich – mit einer lässigen Handbewegung abgewehrt und als lächerlich abgetan. Schließlich hatte ich einst von ihm gelernt, dass es nichts gab, was sich nicht auf eine grob materiell erklärbare Ursache zurückführen ließ. Darüberhinaus existierten für ihn einzig Hirngespinste, Halluzinationen und Fantastereien, und darauf gab er nichts.
      Eines Tages klingelte das Telefon. Als ich den Hörer an mein Ohr hielt und Abd’allahs Stimme vernahm, schlotterten mir die Knie. Er wartete nicht einmal ab, dass ich meinen Namen nannte, sondern wollte nur eines wissen: „Gibst du mir nun meinen Sohn?“
      Eine Frage, die mir eisig und schneidend in alle Glieder fuhr. Zu einer Antwort war ich nicht fähig.
      „Dann bleib verflucht!“ Er legte auf.
      Mir wurde schwarz vor Augen.
      Wie lange ich ohnmächtig am Boden gelegen hatte, weiß ich nicht. Als ich die Welt wieder wahrnahm, bemühte sich mein Vater emsig, mich irgendwie aufzurichten, denn er fürchtete, dass ich mich bei dem Sturz verletzt hätte. Bei näherem Hinsehen konnten wir jedoch nur einige Beulen feststellen.
      Am Folgetag versuchte er, die Post aus dem Briefkasten zu holen, eine Übung, die er im Grunde sehr gut beherrschte. Wir wohnten im ersten Stock, und es gab einen Fahrstuhl, deshalb stellte es kein Problem für ihn dar. Nur zwei flache Stufen musste er unten bewältigen, einen kurzen Absatz. Das
      hatte er immer leicht geschafft, denn er besaß starke Armmuskeln und das Geländer war intakt. Auf jeden Fall brauchte er das Gefühl, auch für mich nützlich zu sein, trotz allem.
      Diesmal aber stürzte er und brach sich den Hals. Vielleicht hatte er danebengegriffen, ein einziges Mal.
      Ich war erledigt, wusste weder ein noch aus. Nachdem er einge­äschert worden war, machte sich in mir das Bewusstsein breit, allein auf der Welt zu sein, ausgeliefert, preisgegeben. Die beiden letzten Freundinnen, die mich hin und wieder besucht hatten, ließen sich neuerdings verleugnen, verweigerten den Kontakt. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck, denn wenn ich ans Telefon ging, um sie anzurufen, nahm entweder niemals jemand ab oder die andere Seite war besetzt. Stundenlang tappte ich schluchzend in der Wohnung umher, nachts schlief ich kaum noch, vernahm unerklärliche Geräusche und begann Gespenster zu sehen. Ich fürchtete, verrückt zu werden und schob nur wegen des Kindes den Gedanken an Selbstmord von mir weg.
      Dann rief er von neuem an.
      „Willst du mir meinen Sohn nun geben?“
      Diesmal fauchte ich: „Nein!“
      Und wusste, dass ich Abd’allah hasste, aus tiefster Seele.
      „Dann bleib verflucht!“ sagte er wieder und legte auf.
      Als es zwei Minuten danach von neuem klingelte, zitterte ich so sehr, dass der Hörer mir erst aus der Hand und zu Boden fiel, bevor ich fähig war, ihn aufzunehmen.
      Ich vernahm die Stimme der Frau, die mir einst das Buch von Betty Mahmoody gegeben hatte.
      „Wie geht es dir?“ erkundigte sie sich. „Ich habe in letzter Zeit dauernd versucht, dich anzurufen, aber du hast nie abgenommen. Da habe ich mir Sorgen gemacht.“
      „Mit mir ist es aus“, klagte ich. Und schilderte ihr, wie ich mich ebenfalls vergeblich bemüht hatte, die Verbindung aufrechtzuerhalten.
      „Das ist seltsam“, gab sie zu. „Sehr seltsam. Aber ich habe kürzlich von einem ähnlichen Fall gehört, und da war schwarze Magie im Spiel.“
      Einige Monate oder sogar noch Wochen zuvor hätte ich eine Idee wie diese auf der Stelle als Unsinn abgetan. Aber inzwischen war ich dermaßen zerstört, das ich sie inständig bat, mich zu besuchen und mir die Sache näher zu erklären.
      Das tat Senta – so hieß sie – bereits zwei Tage später. Zwei Tage, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, denn in dieser Zeit ging auch noch mein Fernseher kaputt, und ich verlor mein Portmonee mit vierundsiebzig Euro drin. Von den nächtlichen Klopfzeichen ganz zu schweigen, die aus unterschiedlichen Richtungen an meine Ohren drangen, so dass ich ihre Herkunft nicht ausmachen konnte.
      „Ich hab gleich etwas für dich getan“, erklärte sie, als sie endlich vor mir stand. „Ein wenig kenne ich mich nämlich aus inzwischen. Dein Abd’allah hat einen guten Bekannten, der interessanterweise in dem Döner-Imbiss arbeitet, wo ich selber des öfteren Halt mache. Omar ist Türke, beileibe kein Fanatiker, und er lässt sich hin und wieder auf ein Gespräch ein, egal ob mit Mann oder Frau. Da habe ich mir gestern ein Herz gefasst und gefragt, ob es einem Muslim erlaubt ist, Magie einzusetzen, und wenn ja, unter welchen Umständen. Er hat natürlich die Augen aufgerissen und wollte wissen, wieso ich auf derartige Ideen komme. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich wahnsinnig für den Islam interessiere und ­einen Streit mit meinem Freund gehabt hätte, über eben dieses Thema. Es waren glücklicherweise keine weiteren Kunden da, und so hat er mich beiseite genommen und mir auseinandergesetzt, dass sich Muslime nicht mit Zauberei befassen. Normalerweise. – Wieso normalerweise? dringe ich in ihn. Worauf er meint, dass es Fälle geben könnte, die es auch einem Nachfolger Mohammeds geraten sein lassen, sich nach Hilfen außerhalb des Üblichen umzusehen. Beispielsweise habe ein Freund von ihm einmal eine Frau, die für ihr magisches Geheimwissen bekannt sei, beauftragt, etwas für ihn zu tun. Er habe ein Problem, dass er auf andere Weise nicht lösen könne. Diese Frau sei jedoch keine wahre Muslimin und Angehörige des Roma-Volkes. Mehr wolle er, Omar, aber keinesfalls dazu sagen. – Mir genügte es auch. Ich hoffe, du verstehst, was Sache ist und ich kann den Missgriff mit dem Buch damals wieder gutmachen.“
      Ein einziges Zittern war ich, weder in der Lage zu sprechen noch sonst etwas zu tun. Nach einer Weile brachte ich es endlich fertig, Senta zu fragen, ob sie dächte, dass ich nun sterben müsste.
      Ich solle mich in psychologische Behandlung begeben, empfahl sie. Vor Angst sei ich völlig konfus, da müsse ich erst einmal raus.
      Dann schrieb sie mir eine Adresse auf. Ich solle am besten sofort hingehen.
      Natürlich ging ich nicht. Mir fehlte schlichtweg die Kraft dazu. Glücklicherweise kam Senta nach zwei Tagen wieder und schleppte mich eigenhändig zu der besagten Dame.
      Die Psychologin benahm sich mir gegenüber so freundlich und beruhigend, dass ich aufzuatmen begann, aber schon den Augenblick fürchtete, an dem ich ihre Praxis wieder verlassen musste. Mein Fall sei kompliziert, meinte sie nach näherer Befragung, aber nicht aussichtslos. Sie wolle mich erst einmal zu einem Pfarrer schicken, und wenn das nicht helfen sollte, habe sie noch ein kräftigeres As im Ärmel.
      Ich verstand im Grunde gar nichts, begab mich aber sofort auf den Weg zu dem Geistlichen. Meine Freundin – denn nun konnte ich sie tatsächlich so nennen – nahm sich die Zeit, mich auch dorthin zu begleiten.
      Der dunkel gekleidete Mensch, dem ich mich dann gegenübersah, stellte mir Fragen, deren Sinn mir schleierhaft blieb. Irgendwelche Sachen mit Satanisten und so; ich wusste wirklich nicht, worauf er hinauswollte. Er irritierte mich eher als dass er mich hätte aufbauen können, und meine Angst nahm wieder zu. Senta, deren Gegenwart er gnädig gestattete, benahm sich unglaublich geduldig. Später erst wurde mir das bewusst, denn damals fühlte ich mich allzu sehr in die Enge getrieben, als dass ich ihr hätte danken können. Ich vermute, sie half mir in jenem Augenblick sogar, dem Theologen rechtzeitig zu entkommen, denn ich kann mich nicht erinnern, selbst etwas in dieser Richtung unternommen zu haben.
      Zu Hause schrie das Kind aus Leibeskräften und drei Bilder lagen am Boden. Wir hatten den Kleinen zu lange allein gelassen, doch nun tat ich mein Bestes, ihn zu versorgen. Meine treue Begleiterin war betroffen, nicht eher daran gedacht zu haben. Über nacht blieb sie bei mir, vielleicht wollte sie die Sache wieder gutmachen. Mag sein, dass sie der Grund war, dass ich mehrere Stunden hintereinander schlief, ohne das grässliche Klopfen zu hören oder von Gespenstern zu träumen.
      Die Psychologin, die wir am nächsten Morgen aufsuchten, reichte uns ohne Umstände zu einem ihrer Bekannten weiter, einem Yoga-Lehrer seltsamerweise. Mit diesem Menschen ließ mich Senta dann allein, da sie verschiedene Termine hatte. Und in seiner Nähe beruhigte ich mich auch ziemlich schnell.
      Er benahm sich unglaublich sicher, als ob es nichts gebe, was ihn zu erschüttern vermochte. So gut ich konnte, erzählte ich ihm meine Geschichte, und er nickte hin und wieder, als wisse er längst Bescheid.
      Als ich meinte, es gebe nichts mehr zu sagen, fragte er
      mich, ob auch meine Eltern Deutsche seien. Nachdem ich das bejaht hatte, erklärte er, er werde einen Runenzauber gegen den Fluch einsetzen. Ich hatte keine blasse Ahnung, was er tun wollte. Nur dass ich bereit war, ihm blind zu vertrauen, das wusste ich. Und mit jeder Bewegung, die er vollführte und jedem Wort, das er sagte, atmete ich tiefer und entspann-
      ter. Ganze Berge von Angst fielen mir von Brust und Schultern.
      Allmählich begriff ich auch, dass ich selbst tun musste, was er vorschlug. Aber dazu war ich rückhaltlos bereit.
      Ich müsse die Rune Haglaz6 nehmen, beschrieb er. Sie aus meinem Lieblingsholz schneiden. Das ist Ahorn; regelrecht zärtliche Gefühle bekomme ich, wenn ich einen Ahornzweig in die Hand nehme und dessen Rinde fühle. Der Yoga-Lehrer zeichnete mir die Rune genau auf, und auch sie gefiel mir. Ohne nachzudenken wollte ich jedem seiner Hinweise folgen, und noch am selben Tag ging ich ans Werk.
      Mit einem uralten Messer, das aus dem Nachlass meiner Mutter stammte, schnitt ich Haglaz aus einem Ahornast. Dann ritzte ich mir die Haut meines Unterarmes auf und betropfte das kostbare Zeichen mit meinem Blut, meinem Lebenssaft. Ich genoss es und achtete darauf, dass das geheimnisvolle Symbol vollständig damit bedeckt wurde. Dann knüpfte ich eine Schnur daran und hing es mir um den Hals, so dass ich es zwischen meinen Brüsten spürte. Damit es niemand sah, trug ich während jener Tage selbstverständlich hochgeschlossene Blusen, T-Shirts oder Pullis.
      Ein wenig enttäuscht war ich nur, dass es keines Spruches bedurfte, keines Orakelsatzes oder wovon manche Legenden sonst berichten. Allein die gute Rune Haglaz lag ganz simpel und unschuldig auf meiner Haut.
      Eine gute Portion Herzklopfen war mir dabei auch verblieben, aber es war längst nicht mehr die Wahnsinnsangst, die mich vorher gebeutelt hatte. Und so zitterte ich nicht einmal, als tags darauf das Telefon wiederum klingelte, und nahm den Hörer ganz ruhig ab.
      „Es tut mir leid“, sagte Abd’allah, und seine Stimme klang blass und beinahe bedeutungslos. „Es war nicht so gemeint.“
      „Ich weiß nicht, wer du bist und wovon du sprichst“, erwiderte ich und staunte über meine eigenen Worte.
      Da bat er mich darum, abzulassen. Und legte auf.
      Ich brauchte kein weiteres Mal zu dem Yoga-Lehrer gehen, um zu wissen, dass sein Rezept wirksam gewesen war. Worin die Kraft bestand, die mich befreit hatte, kann ich bis zum heutigen Tag nicht erklären. Manchmal ertappe ich mich allerdings dabei, es herausfinden zu wollen, und in meiner Wohnung liegen mindestens fünf verschiedene Bücher, die versprechen, mir die Runenmagie zu erklären. Noch habe ich keines von ihnen gelesen.
      Haglaz aber liegt in meiner Nachttischschublade und wenn ich unruhig werde, betrachte ich sie so lange, bis der innere Druck weicht. Ich bin ihr dankbar, das ist alles.
      Stefan wächst nun ohne Vater auf, und manchmal versuche ich mir zurechtzulegen, was ich ihm sagen will, wenn er sich eines Tages nach seinem Erzeuger erkundigt. Abd’allah jedenfalls hat sich nie wieder gemeldet.
      Stattdessen treffe ich mich ziemlich oft mit Senta und deren neuem Freund, und gelegentlich gehen wir gemeinsam Döner essen zu Omar, ihrem Bekannten. Der Türke ist ein munterer Knabe, und in seiner Gegenwart kommt mir der Islam nicht unsympathisch vor. Trotzdem habe ich nicht die geringste Lust, den Koran zu lesen oder mich überhaupt mit Religion zu beschäftigen. Ich bin heilfroh, dass das Grauen und die Angst von mir gewichen sind.
      Jenen Yoga-Lehrer aber, den habe ich weiterempfohlen.

      (Aus: A. H. Buchwald, Geschichten aus der Jakobsmuschel- Der Weg zum eigenen Weg, Teil 1)
      [size=x-large]Leben ist das, was passiert, während wir ständig dabei sind, andere Pläne zu machen.
      John Lennon[/size]
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    • RE: Runenzauber

      Hi Leute,

      es ist ne Weile her, dass ich hier etwas von mir gegeben habe, doch ABRAXAS Rückkehr-Mail hat gefruchtet und mich auch mal wieder hierhergelockt und bewirkt, dass ich mich nun auch wieder ein bisschen in das Geschehen einmische.;)

      Ich kenne das Buch „Geschichten aus der Jakobsmuschel“ von dem hier die Rede ist, und wenn ich darüber nachdenke, schafft derTitel in meinem Denken irgendwie eine Verbindung zum Forums-Statement >Auf zur Wahrheit<.

      >Auf zur Wahrheit< Was bedeutet das eigentlich? Ich denke, das ließe sich auf unterschiedliche Weise interpretieren.
      Ich habe nun mal den Titel des erwähnten Buches als Basis für meine Interpretation genommen.

      Das Buch befasst sich mit dem Jakobsweg, und jene Pilger die sich entschließen diesen Weg zu beschreiten, tun dies aus den unterschiedlichsten Gründen. Diie Tatsache, dass jeder eben seine ganz eigene Motivation hat, diesen rd. 800 km langen, streckenweise sehr einsamen und beschwerlichen Weg, zurückzulegen, wird in diesem Buch in Kurzgeschichten verschiedenster Art, sehr schön, interessant, humorig, spannend und schließlich erkenntnisreich beschrieben.
      Und das ist dem Autor, der diesen Weg selbst gegangen ist und deshalb weiß wovon er schreibt, bestens gelungen, wie ich finde. Die vielen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen aus aller Herren Länder und deren Lebenshintergründe haben ihn zu diesem Roman inspiriert.

      Mein Fazit, welches ich daraus gezogen habe ist, es gibt rd. 6,9 Mlrd. Wege zur Wahrheit, aber dennoch für jeden nur einen einzigen und den findet jeder am leichtesten in der einsamen Stille des eigenen Inneren.

      Der Jakobsweg den einige, sei es bewusst oder intuitiv wählen um der eigenen Wahrheit ein Stück näher zu kommen ist nur einer von unzähligen Wegen die dem inneren Wachtum dienen.
      Und viele die ihn gegangen sind, sind am Ende dieses Weges dann tatsächlich ein Stück weit zu anderen Menschen geworden, als sie es zu Beginn gewesen sind. Aber es gibt auch viele andere Wege.

      Ich denke, im Zuge des eigenen inneren Wachstums, kommt jeder von uns irgendwann an den Punkt, an dem er jene sprichwörtlichen 1000 Meilen mit dem ersten Schritt beginnt, der oft damit anfängt, dass man beginnt, bisher Gewohntes, Anerzogenes, Aufgezwungenes, etc. in Frage zu stellen weil man spürt, das es wider die eigene Natur ist.

      Wenn der innere Rebell erwacht, beginnt „das Kind“ erwachsen zu werden und jeder von uns wird früher oder später diesen Weg zur eigenen Wahrheit beschreiten.

      Gruß
      sign :)

      http://de.wikipedia.org/wiki/Jakobsweg
      (...) wer also nicht die Eindamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit: Denn nur wenn man allein ist, ist man frei.
      >Arthur Schopenhauer<
    • RE: Runenzauber

      Erst jetzt fand ich Deine ausführliche Äußerung, sign. Sei herzlich bedankt dafür; ich freue mich sowieso, dass dieses Beispiel hier mit Interese betrachtet wurde.
      Herzliche Grüße,
      nanabosho
      [size=x-large]Leben ist das, was passiert, während wir ständig dabei sind, andere Pläne zu machen.
      John Lennon[/size]
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    • RE: Runenzauber

      @nanabosho und sign

      Danke für eure Beiträge.
      Sehr schön geschrieben und vor allem deiner Sign kann ich so ohne Bedenken unterschreiben.
      Für jeden gibt es seinen Weg zur Wahrheit. Dies setzt das voraus, was ich versucht habe in
      der Beschreibung der Namensbedeutung zu erklären. Nämlich das man sein Leben selbst in die
      Hand nimmt, nicht alles so hinnimmt, sondern hinterfragt und überprüft, Erfahrungen macht und
      vor allem sich auch mit anderen Menschen austauscht. Das lässt den Horizont oftmals weit über
      vorher gedachte Grenzen hinaus erweitern und ist jeweils eine Bereicherung für sich.
      Daher freue ich mich auch auf jeden Beitrag hier, denn in jedem stecken genug Aspekte die uns
      zum Nachdenken reizen.

      Liebe Grüße

      ABRAXAS