Ein flächendeckender Mindestlohn schadet Deutschland mehr, als er nützt, warnen führende Ökonomen. Er vernichte Arbeitsplätze, sei sozialpolitisch ineffizient und stelle die Tarifautonomie infrage, schreiben die Chefs der sieben großen Wirtschaftsforschungsinstitute Deutschlands in ihrem Brandbrief, den die Online-Ausgabe des Handelsblatts am Donnerstag veröffentlichte. Das Schreiben unterzeichneten Ulrich Blum vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, Christoph M. Schmidt vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), Hans-Werner Sinn vom Münchner ifo-Institut, Dennis J. Snower vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel, Thomas Straubhaar vom Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) und Klaus F. Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und Institut für die Zukunft der Arbeit in Bonn (IZA).
Trifft ihre Warnung zu? Wir fragten Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit.
ZEIT online: Herr Möller, Sie haben mit Ihrer Mitarbeiterin Marion König am Beispiel der Bauwirtschaft untersucht, ob ein Mindestlohn zu Arbeitsplatzabbau führt. Schließen Sie sich der Warnung Ihrer Kollegen an?
Joachim Möller: Ein Mindestlohn vernichtet nicht zwangsläufig Arbeitsplätze das tut er nur, wenn er zu hoch ist. Außerdem kommt es darauf an, wie eine Mindestlohnregelung im Detail ausgestaltet wird. Ich habe kein Verständnis für die geradezu ideologisch aufgeladene Stimmung gegen den Mindestlohn, wie sie manche Fachkollegen verbreiten. Wenn zum Beispiel die Unterzeichner des nun veröffentlichten Briefs vor einer Beschädigung der marktwirtschaftlichen Ordnung warnen, entbehrt das jeder Grundlage. In den USA und in Großbritannien gibt es Mindestlöhne. Das zeigt ganz klar, dass eine marktwirtschaftliche Ökonomie Mindestlöhne ziemlich gut vertragen kann.
ZEIT online: Die Unterzeichner des Briefs gehen von einem Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde aus. Was wäre denn aus Ihrer Sicht eine angemessene Höhe?
Möller: Ich empfehle, einen Bruttolohn zugrunde zu legen, der sich am Hartz-IV-Satz einer allein stehenden Person orientiert. Geht man von einer Arbeitszeit von 40 Wochenstunden aus, kommt man auf 4,41 Euro pro Stunde. Um das Lohnabstandsgebot zu wahren, sollte der Mindestlohn etwas höher sein. Nur dann bewegt man Arbeitslose dazu, einen Job anzunehmen.
ZEIT online: Ein vernünftiger Mindestlohn könnte also 4,50 oder 5,00 Euro pro Stunde betragen.
Möller: Ich will keine neuen absoluten Zahlen in die Debatte werfen. Das zu entscheiden, ist Aufgabe der Politik.
ZEIT online: Sie sagen, neben der Höhe kommt es auch auf die Ausgestaltung des Mindestlohns an. Was ist damit gemeint?
Möller: Ein einziger gesetzlicher Mindestlohn für alle ist besser als viele branchenspezifische Regelungen. Sie machen den Markt sehr unübersichtlich und führen nur zu Wettbewerbsverzerrungen. Beispielsweise lässt sich beobachten, dass Aufträge aus dem Bauhauptgewerbe ins Ausbaugewerbe verlagert wurden, weil es dort einen niedrigeren Mindestlohn gibt.
Dennoch muss ein Mindestlohn nicht für alle gleich gelten. Zum Beispiel könnten für Jugendliche niedrigere Mindestlöhne gelten. Empirische Studien haben gezeigt, dass Jugendliche in den USA, die schon im ersten Job einen Mindestlohn erhielten, zehn Jahre später häufiger arbeitslos waren als die Jugendlichen einer Vergleichsgruppe. Die Mindestlohnbezieher hatten eine sehr hohe Erwartungshaltung. Wenn aber die Löhne nicht so schnell steigen wie gedacht, frustriert das und kann dazu führen, dass man aus dem Arbeitsmarkt aussteigt. Außerdem sollte der Mindestlohn in Ostdeutschland niedriger sein als in Westdeutschland.
ZEIT online: Das dürfte politisch schwer zu vermitteln sein.
Möller: Aber die Rahmenbedingungen sind im Osten einfach noch anders. Zum Beispiel liegt das Lohnniveau deutlich niedriger. Wird es durch einen Mindestlohn zu stark angehoben, kann es eben doch zu negativen Arbeitsplatzeffekten kommen. Ich plädiere dafür, vorsichtig einzusteigen, mit einem niedrigen Betrag, den man nach und nach anheben kann. Großbritannien hat vorgemacht, dass das sehr gut funktioniert.
ZEIT online: Ihre Kollegen schreiben, ein Mindestlohn sei ein verfassungswidriger Eingriff in die Tarifautonomie.
Möller: Das ist absolut nicht korrekt. Ein Mindestlohn, der eine niedrige Lohn-Untergrenze festlegt, lässt sehr wohl Spielraum für unabhängige Tarifverträge.
ZEIT online: Kritiker des Mindestlohns argumentieren zudem häufig, dass die USA und Großbritannien nicht als Vorbilder für Deutschland taugen. Der deutsche Arbeitsmarkt sei viel unflexibler und könne deshalb die Nachteile eines Mindestlohns nicht so gut wegstecken wie die Arbeitsmärkte dort.
Möller: Ich kann das so nicht sehen. Der deutsche Arbeitsmarkt mag relativ rigide sein. Aber ich weiß nicht, wie das mit dem Mindestlohn zusammenhängen soll. Übrigens gab es in Großbritannien, als dort der Mindestlohn eingeführt wurde, ebenfalls eine sehr aufgeregte Debatte über die vermeintlich drohenden Arbeitsplatzverluste. Doch es gingen keine Jobs verloren, im Gegenteil. Wenn die Kollegen nun behaupten, das liege lediglich an der guten britischen Konjunktur, so wundert mich das sehr. Die entscheidenden wissenschaftlichen Studien zum britischen Beispiel sind so angelegt, dass sie konjunkturelle Effekte methodisch sauber ausschließen. Sie untersuchen, wie sich die Beschäftigung und Entlohnung von Mindestlohnbeziehern im Zeitverlauf entwickelt, und vergleichen das mit einer Kontrollgruppe, deren Mitglieder nur ein wenig mehr verdienen. Das Ergebnis: Die Löhne unter Geringverdienern haben sich durch den Mindestlohn einander angenähert, und ihre Beschäftigungsaussichten haben sich verbessert.
Manche empirische Studien zeigen sogar, dass ein maßvoller Mindestlohn auch positive Beschäftigungseffekte haben kann. Beispielsweise können Unternehmen Stellen schneller besetzen, wenn sie einen Mindestlohn zahlen. In der internationalen Literatur wird dieser Effekt stark diskutiert. Nur in Deutschland ignoriert man ihn.
Quelle: Die Zeit
Anlagen: Der Brandbrief der Wirtschaftsforscher (im Wortlaut)
Die Präsidenten und Direktoren der sieben führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute haben in einem gemeinsam Brief die Bundesregierung davor gewarnt, Mindestlöhne in Deutschland einzuführen. Das Schreiben vom 12. März 2008, das die Überschrift Beschäftigungschancen statt Mindestlohn! trägt, dokumentiert Handelsblatt.com nachfolgend im Wortlaut.
Beschäftigungschancen statt Mindestlohn!
Die Bundesregierung beabsichtigt, durch eine Neufassung des Gesetzes über Mindestarbeitsbedingungen (MindArbBedG) und des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) für möglichst viele Branchen Mindestlöhne in Deutschland einzuführen. Entsprechende Gesetzentwürfe des Bundesarbeitsministers liegen vor. Wir müssen vor deren Umsetzung ausdrücklich warnen! Ohne Not würde mit diesem Schritt der Weg in eine staatliche Lohnfestsetzung bereitet und das erfolgreiche System der marktwirtschaftlichen Ordnung in seinen Grundfesten beschädigt. Statt das angestrebte sozialpolitische Ziel zu erreichen, droht ein erheblicher Abbau von Arbeitsplätzen für niedrig entlohnte Arbeitnehmer. Mit Eingriffen wider die ökonomische Vernunft nimmt man den Menschen die Chance zur Teilnahme am ökonomischen und gesellschaftlichen Geschehen. Im Einzelnen gilt:
1. Ein Mindestlohn ist sozialpolitisch ineffizient
Ein Mindestlohn ist nicht erforderlich, um eine Grundsicherung bereit zu stellen. Mit dem Arbeitslosengeld II besteht bereits ein Instrument, das diese sozialpolitische Funktion erfüllt. ALG II erhält jeder Bedürftige unabhängig von der Ursache seiner Notlage und unabhängig von Versicherungszeiten. Damit wird zugleich ein impliziter (der familiären Situation angepasster) Mindestlohn definiert, denn die gewährten Transfers entsprechen einem Erwerbseinkommen, das bei Bruttostundenlöhnen von ca. 4 bis 5 Euro (Alleinstehende) bis über 10 Euro (Verheiratete mit Kindern) erzielt werden würde. Die Zuzahlungen im Rahmen des ALG II verhindern zudem, dass das Einkommen gering bezahlter Beschäftigter unter das soziale Existenzminimum fallen kann.
Ein Mindestlohn ist kein geeignetes Umverteilungsinstrument, weil ein erheblicher Teil der Bezieher gar nicht bedürftig im Sinne der Bedarfsgemeinschaften ist. So leben viele derjenigen Mindestlohnbezieher, die ihren Job behalten, nicht in Haushalten mit geringem Einkommen etwa Zweitverdiener oder Jugendliche, die bei ihren Eltern wohnen. In diesen Fällen verteilt der Mindestlohn nicht nach der Bedürftigkeit um, sondern begünstigt auch die finanziell Bessergestellten. Umgekehrt kann ein Alleinverdiener auch nach Einführung eines Mindestlohns noch arm sein und seinen persönlichen Bedarf nicht decken, wenn er eine mehrköpfige Familie hat.
2. Ein gesetzlicher Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze
Trotz des im Sozialsystem angelegten Mindestlohns würde eine gesetzliche Lohnuntergrenze in der anvisierten Höhe von 7,50 Euro eine erhebliche Bindungswirkung entfalten. Ein Viertel der privat Beschäftigten im Osten und etwa ein Zehntel im Westen verdienen weniger als diesen Betrag. Die notwendige Lohnerhöhung wird in erheblichem Umfang neue Arbeitslosigkeit erzeugen. Betroffen wäre dabei vor allem der Dienstleistungssektor. Auch wenn es den Unternehmen gelingt, die höheren Arbeitskosten großenteils auf die Preise zu überwälzen, hätte dies gravierende Auswirkungen, weil die Nachfrage bei steigenden Preisen sinkt. Häufig sind jedoch die Möglichkeiten begrenzt, erhöhte Arbeitskosten auf die Preise zu überwälzen. Dann werden die Unternehmen mit verstärkter Rationalisierung reagieren, also Arbeitskräfte durch Maschinen austauschen, oder mit der Verlagerung von Produktionsstätten, wenn die heimische Nachfrage nach den entsprechenden Gütern und Leistungen auch aus dem Ausland befriedigt werden kann, wo zu niedrigeren Löhnen produziert wird. Haushalte können zudem verteuerte Dienstleistungen durch Waren oder Schwarzarbeit ersetzen. So oder so der Mindestlohn führt zu erheblichen Beschäftigungsverlusten. Diese Beschäftigungsverluste sind im Westen unseres Landes erheblich. Im Osten werden sie erschütternde Ausmaße annehmen.
Großbritannien, wo 1997 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, als Beispiel für die vermeintlich positiven Wirkungen ins Feld zu führen, ist verfehlt. Hier werden allen vorliegenden Belegen zufolge negative Beschäftigungswirkungen im unteren Lohnbereich tendenziell durch die positiven Arbeitsmarktwirkungen des Wirtschaftswachstums überkompensiert. Zudem ist der Arbeitsmarkt in Großbritannien weit flexibler als in Deutschland, und nur 1,9 Prozent der britischen Arbeitnehmer beziehen den Mindestlohn. Auf der Grundlage der niedrigen deutschen Wachstumsraten wäre der auf dem hiesigen Arbeitsmarkt angerichtete Schaden nicht zu übersehen. Wie nachteilig ein hoher Mindestlohn für die Beschäftigung ist, zeigt sich in Frankreich. Dort stellt der Mindestlohn, der gut 15 Prozent der Beschäftigten betrifft, gerade für Jugendliche eine hohe Markteintrittshürde dar und führt zu deutlichen Arbeitsplatzverlusten bei Geringqualifizierten und Jugendlichen.
3. Es droht eine staatliche Lohnfestsetzung
In Deutschland werden immer noch fast zwei Drittel der Beschäftigten durch tarifvertragliche Regelungen erfasst. Die Tarifautonomie funktioniert in vielen Bereichen also nach wie vor. Zur Tarifautonomie gehört aber nicht nur das Recht, die Arbeitsbedingungen über Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in kollektiv ausgehandelten Tarifverträgen zu regeln (positive Koalitionsfreiheit). Dazu gehört auch das Recht, individuell zu verhandeln (negative Koalitionsfreiheit). Diesem Außenseiterwettbewerb durch tarifungebundene Firmen und Arbeitnehmer ist es nicht unwesentlich zu verdanken, dass Deutschland nach einer langen Phase moderater Lohnabschlüsse heute wieder international wettbewerbsfähig geworden ist.
Vor allem branchenbezogene Mindestlöhne würden jedoch in die negative Koalitionsfreiheit eingreifen, indem sie den Außenseiterwettbewerb faktisch außer Kraft setzten. So entfiele die Möglichkeit einer Korrektur der Tarifpolitik durch Außenseiterwettbewerb. Die Diskussion über einen Mindestlohn für die Zeitarbeit zeigt, dass sogar in die positive Koalitionsfreiheit eingegriffen werden soll. Der Tarifvertrag einer DGB-Tarifgemeinschaft soll den Tarifvertrag einer CGB-Tarifgemeinschaft verdrängen können. Dies wäre ein verfassungswidriger Eingriff in die Freiheit der Tarifvertragsparteien, Tarifverträge ohne staatlichen Einfluss abschließen zu können.
Die geplante Novellierung des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes aus dem Jahre 1952 hebelt die Tarifautonomie ein weiteres Stück aus. Während die Allgemeinverbindlichkeit und das Arbeitnehmer- Entsendegesetz tarifliche Mindestlöhne erst dann gesetzlich ausweiten, wenn in den tarifgebundenen Firmen mindestens 50 Prozent der Beschäftigten des relevanten Geltungsbereichs arbeiten, soll das MindArbBedG Tarifverträge auch auf tarifungebundene Außenseiter ausweiten. Als Folge davon würde eine Mehrheit durch eine Minderheit majorisiert. Der Weg zum staatlichen Lohndiktat ist damit offen. Der Staat legt so die Axt an einen Pfeiler der sozialen Marktwirtschaft.
Ulrich Blum vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle / Saale (IWH),
Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln,
Christoph M. Schmidt vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI),
Hans-Werner Sinn vom Münchner ifo-Institut,
Dennis J. Snower vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) Kiel,
Thomas Straubhaar vom Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) Hamburg sowie
Klaus F. Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und Institut für die Zukunft der Arbeit in Bonn (IZA).
Quelle: Handelsblatt.com