08. Februar 2008 Der Große Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) für Strafsachen hat sich nach eigenen Worten für einen Systemwechsel entschieden. Das Gremium, das nur äußerst selten zusammentritt, beschloss unter Vorsitz des bisherigen BGH-Präsidenten Günter Hirsch eine Neuregelung für den Strafrabatt bei übermäßig langen Strafverfahren. Der konkrete Streitfall, der die Kehrtwende ausgelöst hat, betrifft zwar einen mutmaßlichen Versicherungsbetrüger, der eine Immobilie seiner Mutter angezündet hatte. Doch wird sich die Änderung vor allem auf Wirtschaftskriminelle auswirken. Deren Verfahren dauern nämlich oft besonders lange, weil Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte sich durch dicke Aktenberge wälzen und Bilanzbewertungen nachprüfen müssen.
Das Problem hierbei ist, dass bei lange dauernden Strafverfahren die Täter hinterher einen Strafnachlass bekommen müssen. Das verlangen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht. Die frühere Vorsitzende Richterin am BGH und jetzige Generalbundesanwältin, Monika Harms, hatte wiederholt beklagt, dass Wirtschaftsstraftäter deshalb unangemessen niedrige Strafen erhielten, die zudem fast immer zur Bewährung ausgesetzt werden müssten. Diese Kritik hatte ihr Senat auch in ein Urteil zum Kölner Müllskandal hineingeschrieben.
Der Große Strafrechtssenat hat sich angeschlossen
Ein anderer Strafsenat des Bundesgerichtshofs unternahm im vergangenen Jahr einen Vorstoß, um diese Regelungen zu ändern. Dem hat sich jetzt der Große Strafrechtssenat des BGH angeschlossen. Künftig wird nach dessen Entscheidung bei langen Verfahren nicht mehr das Strafmaß herabgesetzt (Abschlagsmodell), vielmehr gilt ein Teil davon als bereits verbüßt (Vollstreckungsmodell). Dadurch rutscht die nominell verhängte Strafe nicht mehr so oft unter die Grenze von zwei Jahren, bis zu der sie im Normalfall zur Bewährung ausgesetzt wird (Az.: GSSt 1/07).
Der Strafverteidiger Franz Salditt aus Neuwied hält dies für einen Verstoß gegen das im Grundgesetz verankerte Verbot, Straftatbestände zulasten von Beschuldigten analog anzuwenden, also durch bloße Interpretation des Gerichts auszuweiten. Salditt rechnet deshalb mit Verfassungsbeschwerden gegen die neue Linie der obersten Strafrichter, wie er dieser Zeitung sagte. Der Bundesgerichtshof hat in diesem fundamentalen Punkt Grenzen gesprengt. Der Rechtsanwalt weist darauf hin, dass die Strafzumessungsregeln nicht bloß zum Prozessrecht gehören. Dieses fällt nicht unter das Analogieverbot.
Diese Folgen sind gesetzlich vorgesehen
Die Bundesrichter schreiben hingegen in ihrem Beschluss, die Neuregelung werde in vollem Umfang den Kriterien der Menschenrechtskonvention gerecht, die für die Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zu beachten seien. Sie habe außerdem den Vorzug, nicht die Fragen des Ausgleichs von Unrecht und Schuld mit Aspekten der Entschädigung für dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot zu vermengen, welche der Strafzumessung wesensfremd seien.
Damit sei künftig nicht mehr eine aus Entschädigungsgründen verringerte Strafe maßgeblich dafür, ob eine Strafaussetzung zur Bewährung möglich ist, heißt es darin weiter. Dies gelte gleichfalls für die Anordnung einer Sicherungsverwahrung oder die Ausweisung eines Angeklagten. Diese Folgen sind gesetzlich vorgesehen und daher als Konsequenz des Systemwechsels sachgerecht.
Quelle: faz.net